Liebe Telefonkabine

Jetzt hat auch Deutschland keine Telefonkabinen mehr, Ende Januar wurde die letzte abgeschaltet. Zellen hiessen sie dort, und es ist eigentlich der richtige Name, denn Telefonkabinen sind Zellen oder fühlten sich so an, ein Meter auf einen Meter, viereckig, eng, die Luft stickig meistens, trostlos. In der Schweiz war das Ende schon früher gekommen, im November 2019 wurde die letzte im Kappelerhofquartier in Baden weggetragen, sie ist jetzt im Museum für Kommunikation in Bern ausgestellt.
In einer Kolumne habe ich damals im Tages-Anzeiger über das Ende geschrieben, das ist nun eine neue und ergänzte Fassung. Eine Liebeserklärung.



Liebe Telefonkabine

Du bist verschwunden aus unserem Leben, überflüssig geworden, weil heute jeder sein Telefon bei sich hat, im Hosensack oder in der Tasche, und während die Telefonkabine eine Telefonkabine war, nur eine Telefonkabine, ist heute das Telefon ganz viel anderes und wir brauchen es vor allem dafür – als Agenda, Suchmaschine, Notizblock, Schrittzähler, Empfänger für TV, Radio und Musik und Filme, ein Teletext und Fotoalbum, Wecker, Rechner, Wetter, auch den Zugriff auf Bankkonto oder zur Versicherung ermöglicht es, scannen und Spiele spielen kann ich mit ihm und ganz viel mehr.
 
(Mit vielen Bildern)

Aber du, liebe Kabine, und das tönt doch etwas vornehmer als Zelle, du warst nur für eines da: zum Telefonieren. Es gab dich in Hotellobbys, auf der Post, bei Bahnhöfen, Schiffsstegen, mitten auf Plätzen, auch an einsamen Orten, und in allen Kabinen waren Botschaften hingekritzelt, irgendwo, oft nicht ganz jugendfreie Bekenntnisse waren es, und früher, da warst du auch nicht nur gläsern, hast du Schutz geboten für intime Geständnisse.

Ich erinnere mich noch bestens an damals, in jungen Jahren, an die Erfahrungen, die alle machten, die mit dir aufgewachsen sind. Als ich von zu Hause weggeschlichen bin und vielleicht sagte, ich würde noch kurz spazieren gehen, obwohl die Eltern wussten, dass ich doch nie freiwillig spazieren gehen würde.

Aber ich musste telefonieren, dringend und ungestört. Beim Bahnhof war die nächste Kabine, ich nahm den Hörer, wählte die Nummer, zitternd, ich hatte sie mit dem Kugelschreiber auf meine Hand geschrieben, tüüt, tüüt, tüüt, – und ich hoffte, dass nicht die Eltern, sondern die Tochter abnehmen würde. Mein Schulschwarm.

60 000 Telefonkabinen gab es einmal in der Schweiz

Und doch, auch das hast du ermöglicht, es gab Bücher in dieser Zelle, Telefonbücher, vier, fünf, an gewissen Orten auch mehr, 25 total für die Schweiz, unterteilt in Regionen, und alle, die ein Telefon hatten, waren darin aufgelistet, von Gemeinde zu Gemeinde, die Namen von A bis Z.

Und wenn wir von jemandem den Namen wussten, nicht nur den Vornamen, manchmal aber doch nur diesen, Heidi, Gabi, Susi und die Suche ging dadurch viel länger, und wir waren ja nicht ganz sicher, ob sie es auch war, die wir endlich fanden unter den oft vielen Heidis, Gabis und Susis, dann konnten wir herausfinden, unter welcher Nummer wir sie - oder natürlich auch ihn - anrufen könnten, wenn wir es denn auch wagten.

Und, ganz schlimm, es gab immer wieder das: Eine Seite war aus dem Buch  herausgerissen, ausgerechnet diese Seite in diesem Buch, die wir gebraucht hätten.

Später kam die Zeit, als du auch beruflich mein Begleiter warst. Manchmal bin ich zu dir gehetzt, vom Stadion zum nächsten Platz, wo du gestanden bist, grau, mit «Telefon» angeschrieben. Es pressierte, der Redaktionsschluss war nah, das Blatt Papier mit dem Text in der einen Hand, die Hermes Baby, auf der ich geschrieben hatte, in der anderen. Und dann, oh Schreck, war schon jemand drin, ich machte ihm oder ihr – vielleicht war es auch Liebe, er oder sie hatte leuchtende Augen – ein Zeichen: Entschuldigen Sie bitte, es eilt, sehr, sehr, schrie ich. Und er oder sie hat abgewunken, verständnislos.

An eine Kabine erinnere ich mich gut, sie stand in der Via Giuseppe Mazzini in Mailand, und sie war oft meine Rettung. Es gab noch kein Internet, keine Mails, wir waren mit unseren Olivettis M10 ­unterwegs, den ersten elektronischen Textcomputern, aber um unsere Texte auch auf die Redaktion übermitteln zu können, brauchte es Akustikkoppler, zwei runde Gummimuffen, Dichtungen, in die die Telefonhörer gepresst werden mussten. Die Hörer in den Hotels waren oft, vor allem in Italien, nicht rund, sondern eckig, und so gab es eben nur die Kabinen unten auf der Strasse, wie in Mailand in der Nähe des Doms.

Der Telefonhörer musste auf den Koppler gepresst werden

Oben im Schlitz die Lire ein­geworfen, manchmal zu wenig, und dann brach die Leitung ab, kein Text in Zürich angekommen, wieder eingeworfen, wieder die Nummer gewählt, diesmal besetzt, nochmals von neuem, wieder niedergekniet, den Olivetti auf den Oberschenkeln, den Hörer in den Koppler gepresst, ganz fest, sonst sah man auf dem Display plötzlich nur Hieroglyphen, was ein schlechtes Zeichen war.

Draussen wartete jemand, und manchmal waren es viele, die auch telefonieren wollten, sie machten genervt Zeichen, keine schönen, es war heiss in der Kabine, die Luft schlecht, der Boden dreckig, es ging lange, bis der Text auf der Redaktion war, und sie tobten nun draussen und waren verzweifelt, sie zeigten es mit den Händen, es sei auch dringend, vielleicht auch jetzt l’amore.

Ach, liebe Telefonkabine - oder Zelle in Deutschland, wie schön war es doch mit dir, trotz allem, du gehörtest zu unserem Leben, warst wichtig für uns, nur schon dein Anblick, an ganz vielen Orten, wir fanden dich immer irgendwo, das Wissen, dass wir dank dir eine Verbindung herstellen konnten, und die Gespräche waren immer wichtig, es konnte auch niemand zuhören, nicht wie heute, im Zug mit dem Handy in der Hand. In deiner Blütezeit gab es über 60 000 von dir in der Schweiz.

Und ja, es kommt mir, wenn ich über dich nachdenke, auch das in den Sinn: Einmal, es war im Winter auf der Lenzerheide, habe ich auch auf deinem Boden geschlafen, die Disco war aus, der erste Bus fuhr erst um sieben Uhr morgens, und draussen schneite es und war es minus 10 Grad, höchstens. Du warst also für mich auch ein Schlafzimmer. Und somit doch nicht nur ein Ort für dringende Telefonate.

Und jetzt bist du im Museum in Bern oder in Deutschland in der Nähe von Berlin in einem Endlager. Kein Anschluss mehr unter dieser Nummer.

Gratis telefonieren: In einigen wenigen gläsernen Kabinen 

PS: Es gibt bei uns noch einige wenige Kabinen, Telecap heissen sie, sie sind nur aus Glas, die Werbefirma APG, und nicht mehr Swisscom, betreibt sie als Standorte für Plakatwerbung, und man kann gar gratis telefonieren, ins Fest- und Handynetz, auch die Dargebotene Hand ist erreichbar. Ich musste in Zürich lange nach einer Kabine suchen, auf dem Bellevueplatz hat es zwei. Ich rief darin auf mein Handy an, es klappte, «Telefon Kabine» erschien auf dem Display. Ich blieb nachher eine halbe Stunde in der Nähe, und kein Mensch hat in dieser Zeit telefoniert, Werbung gab es am Glas auch keine.
 
 
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