Sie ist unhübsch

Die letzte Seegfrörni



Wir Kinder rannten hinunter zum See. Nicht, um beim Schiffsteg in Küsnacht ins Wasser zu springen, möglichst in die Wellen eines wegfahrenden Schiffes. Nicht, um zu fischen, was ich manchmal auch tat, mit meinem Grossvater, dabei konnte ich Fische nicht töten.

Wir rannten nach der Schule zum See und hatten einen Stock in der Hand und Schlittschuhe, meine waren schwarz, ich hatte sie zu Weihnachten bekommen – waren es «Graf»? –, und ich trug meistens einen Skipulli im Norweger-Muster, den meine Mamma selber gestrickt hatte, mitsamt der Kappe. Es gibt davon ein Bild in der Zeitung von damals.

Chneble auf dem Zürichsee im dem von der Mutter gestricktem Pullover


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Wir rannten zum See, der jetzt ein Eisfeld war. Ein einziges Eisfeld. Damals, als es im Winter noch winterlich war – und vor allem kalt, bitter kalt. Wir wollten nur eines: Eishockey spielen, Chneble sagten wir, manchmal mussten wir zuerst den Schnee zur Seite schieben, die Tore markierten wir mit einer Jacke oder Kappe, ausser, wir froren derart, dass wir diese nicht ablegen konnten.

Der Zürichsee war zugefroren, von Schmerikon ganz oben, wo der See Obersee heisst, bis unten zur Quaibrücke in Zürich.

Vor genau 60 Jahren; es war der kälteste Winter seit langer, langer Zeit.

Am 24. Januar 1963, einem Donnerstag, in den Tagen zuvor war es teilweise mehr als 15 Grad unter null gewesen, dampfte der See nicht mehr, zum letzten Mal fuhr am Tag zuvor ein Kursschiff zwischen Erlenbach und Thalwil, und die Menschen sahen auf eine grosse, stille und blaugraue Fläche. 88 Millionen Quadratmeter waren zugefroren, die Dicke des Eises allerdings nur zwei Zentimeter. 

Am 1. Februar, mittags um zwölf, war es dann aber so weit, die mittlere Eisdecke jetzt dreizehn Zentimeter, und die Behörden gaben den See auf der ganzen Länge frei. Eine Eispolizei patroullierte mit Funkgeräten, sie hatten auch motorisierte Eisschlitten, der gesamte Zürcher Stadtrat angeführt von Stapi Emil Landolt machte eine erste Begehung.
 
Der Film zur Seegfrörni 1963 (Youtube)
 

Die Zürichsee-Zeitung druckte am Sonntag ein Extrablatt, die «Seegfrörni-Poscht 1963», mehr als 150 000 Leute sollen unterwegs gewesen sein, auf Schlittschuhen oder rostigen «Örgeli», die man an den Schuhen festschraubte; zu Fuss, auf Velos, Dreirädern, Eissegeln, hoch zu Ross, auch Kamele und ein Lama von Zirkus Knie durften raus. In der Zeitung stand: «Säuglinge in Wägelchen, Kleinkinder in Schlitten, von mondänen Muettis auf Schlittschuhen graziös gezogen, Greise und Greisinnen am Stock – niemand fehlte, so vollzählig und doch so ohne Gedränge war ‘tout Zürich’ seit 1929 (die vorletzte Seegfrörni) nie mehr versammelt.»

Und auch solches war zu lesen: «Eine hagere Frau, schwarz in schwarz, unhübsch, ältlich (tatsächlich, es stand so!!), mit glanzlosen, verkniffenen Augen, fast grotesk anzuschauen, im kurzen, mottenzerfressenen Schlittschuhröcklein, setzte plötzlich – als wäre sie allein auf der Welt – zur Pirouette an; und siehe da – sie war schön.«

In der Nacht auf den 19. Februar fiel mehr Schnee als im ganzen Winter, der See wurde zur Winterlandschaft, aber es war auch gefährlich, die verschiedenen Risse sah man nicht mehr, und so gab es ein Verbot, die Eisfläche zu betreten. «Beim Ertönen von Alarmsirenen ist die Eisfläche zu räumen», überall waren diese Plakate seit dem ersten Tag aufgestellt.

Am 24. Februar wurde die Eisfläche jedoch wieder freigegeben.

Fünf Wochen lang ein Tummelplatz

Die Seegfrörni war also noch nicht zu Ende, nachts minus 14, tagsüber aber 12 Grad über Null wurden gemessen. Dann kam aber immer mehr milde Meeresluft, es setzte Tauwetter ein, und am 9. März musste der Zugang zum Tummelplatz Zürichsee endgültig verboten werden, nach fünf Wochen. Aber erst gegen Ende des Monats wurde versucht, mit einer Eisbrecherfahrt den See auch wieder schifftauglich zu machen. Am Steuer der «Wädenswil» war Kapitän Jucker, der schon 1929, bei der vorletzten Seegfrörni, diese Fahrt gemacht hatte.

«Das war die Seegfrörni 1963» schrieb der Tages-Anzeiger, der damals 30 Rappen kostete und eine Auflage von 160 000 Exemplaren hatte, dazu als Untertitel: «Ein kurzer Bericht, den sie gerne lange aufbewahren werden»

1963 war das Jahr, als John F. Kennedy in Dallas ermordet wurde, Papst Johannes XXIII. starb, die Beatles ihr erstes Album herausgaben haben, «Please Please Me», und erstmals «Dinner for One» aufgeführt wurde.

Und 1963 war eben das Jahr, als es letztmals eine Seegfrörni gab. Und wir von der Schule zur Bucht rannten vor dem Hotel Sonne in Küsnacht. Und Hockey spielten, bis es dunkel wurde und wir den Puck nicht mehr sahen.

Viele Dokumente von damals und Ausschnitte aus Zeitungen hatten meine Eltern in einem Ordner aufbewahrt. Ich tue es auch, werde es dann meinen Kindern geben, und sie hoffentlich ihren Kindern. So können noch viele wenigstens nachlesen, wie es war, bei der letzten Gfrörni des Zürichsee.

Ein Tag in diesem Januar 2023, 60 Jahre später, der Winter ist eher ein Frühling, ich springe … nein: natürlich masslos übertrieben, ich steige langsam eine kleine Treppe hinunter, zaghaft, schwimme dann zwei, drei Meter, nachdem ich zuvor in der Sauna im Strandbad in Küsnacht gewesen war. Der See ist etwas unruhig, viele Wellen, der Wind kommt aus Westen, Luft knapp 10, Wasser 7,1 Grad warm - oder kalt.

Nie mehr, es ist keine gewagte Prognose, wird der Zürichsee zugefroren sein, wie damals, 1963, beim letzten Mal, von Schmerikon bis Zürich.

So wird es wohl nie mehr sein
 
 
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