«Hmmm» zu Katar

Die Kolumne «Espresso» lebt auf diesem Blog weiter




Es ist, als wäre der Sommer nochmals zurückgekommen, dabei ist bald Winter, die Sonne blendet durch die Fenster in ihrem Lokal im Zürcher Seefeld, und Bruno, der Werber, schlug erst vor, den Espresso draussen zu nehmen. Aber es ist eben doch nicht mehr Sommer, es ist zu dieser Zeit am frühen Morgen noch empfindlich kühl. Und so sitzen sie drinnen, und neben ihnen, am runden Tisch, sitzen jene, die fast jeden Morgen hier sitzen, ein Stammtisch der grossen Lebenserfahrung, sie sind 70 und älter.

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Und sie reden wie immer, mal von jenem, mal von diesem, ein Wort gibt das nächste Thema, und manchmal verliert einer den Faden und redet über das, dabei reden die anderen bereits über dies, und das führt zu einer gewissen Konfusion und einem kurzen Schweigen.

Der Krieg ist jetzt das Thema, er ist es jeden Morgen, auch wenn sie immer wieder sagen, sie wollen nun nicht mehr darüber reden, sie hätten genug, es mache nur krank, und in ihrem Alter sollten sie doch nur noch über die schönen Seiten des Lebens reden, aber über was denn, besonders in diesen Zeiten? Der Name Köppel fällt, einer sagt, es werde immer schlimmer mit dem, was der verbreite, und der andere fragt, warum er ihn dann jeden Morgen da auf seiner Sendung noch höre, und der eine sagt, das frage er sich auch jedesmal und er sage sich stets, jetzt reiche es, endgültig, und er höre nicht mehr hin, und dann mache er es doch wieder, und dann werde dieser Putin-Versteher noch extremer, der schreie mit rudernden Armen, die ihn an einen anderen SVPler erinnern, in sein Mikrofon und sei so verbissen, und der andere sagt, du bist selber schuld, wenn du dir das antust, und das Thema Krieg ist beendet.

Sie reden jetzt über Katar, einer sagt, es gehe noch 45 Tage, vielleicht schneie es ja dann draussen, und alle schauen zur Seefeldstrasse, der Zweier fährt eben vorbei im schönsten Sonnenschein, und dort unten in der Wüste kühlen sie dann ihre Stadien herunter, damit die Spieler und Zuschauer in der Hitze nicht kollabieren, und hier müssen wir frieren, weil wir nicht heizen dürfen. Eine verrückte Welt, sagt einer. Ein anderer sagt, es werde die WM der Schweizer, ihr werdet sehen, wir werden Weltmeister, zumindest den Halbfinal werden wir erreichen. Sie prosten einander zu, denn sie trinken inzwischen nicht mehr nur Kaffee.



Und jetzt wendet sich Bruno, der Werber mit den ergrauten Haaren, seinem Freund Luca zu, dem Architekten, sie winken dem Kellner hinter der Bar, und der weiss, ohne zu fragen, er muss ihnen einen zweiten Espresso bringen, schwarz und ohne Zucker, wie immer.

Du, sagt Bruno, ich habe am 24. November einen Tisch für uns reserviert, auf halb elf, in deinem Lieblingsrestaurant vorne beim Bellevue, die stellen Bildschirme auf, wir können erst einen Apéro nehmen, dann bestellen wir Raclette mit Kaviar, wenn schon, denn schon, sie hatten in diesem noblen Haus noch nie Raclette auf ihrer Karte, aber wegen der WM machen sie es, dein Lieblingswein dazu, den Yvorne Chablais, Jahrgang 2021, wird gekühlt sein, und um elf am Morgen beginnt das Spiel, Schweiz gegen Kamerun.

Hmmm, sagt Luca. Er schweigt. Schüttelt den Kopf.

Vielleicht, sagt Bruno, haben die Kameruner wieder einen wie diesen Roger, wie hiess er nur…

… Milla, sagt Luca, immer noch kopfschüttelnd.

… ja, sagt Bruno, diesen Milla oder Miller, fast 40 war er doch damals 1990, und sein Lambada-Tanz an der Eckfahne nach seinem Tor in Rom, unvergesslich.

Hmmm, sagt Luca.

Und für den 28. November, ein Montag, habe ich auch einen Tisch für uns reserviert, sagt Bruno, dann spielen wir gegen Brasilien abends um 17 Uhr, es wird schon dunkel bei uns, vielleicht schneit es ja wirklich, und wir können zum Apéro Glühwein trinken und dann ein Fondue nehmen, es soll exklusiv sein, und jetzt dazu einen Champagne Réserve Brut, 1er Cru Sélection, vielleicht können wir ja nach dem Spiel feiern.

Hmmm, sagt Luca.

Jetzt stutzt Bruno. Was ist nur los mit dir, Luca? Du schaust doch seit Kinderzeiten jede Weltmeisterschaft und dann jeweils fast jedes Spiel, und weisst du noch, letztes Mal, 2018, sie war in Russland, da haben wir auf dem Tisch hier draussen vor dem Lokal fast getanzt, du in einem roten Leibchen, nach dem Tor der Schweizer gegen Serbien, und du hast die Weinflasche ausgeschüttet, diesen wunderbaren Roja, gut da kam dieser Adler-Jubel, das war….

… hmmm sagt Luca.

He, was ist los, Luca?, sagt Bruno. Ich organisiere alles, damit wir auch diese WM geniessen können, eine besondere wird es sein, und du sagst immer nur «hmmm».

Hmmm, sagt Luca, weisst du, dieses Katar, eine Weltmeisterschaft in unserem Winter, tote Gastarbeiter, miese Arbeitsbedingungen, Korruption, keine Rechte für die Frauen, keine Pressefreiheit, Homophobie, da dürfen wir doch nicht einfach wegschauen. Oder eben: Wir müssen wegschauen, wenn sie dort spielen.

Das Finalstadion in Katar

Vielleicht frieren wir ja etwas weniger, sagt jetzt Bruno, weil wir dann Flüssiggas aus Katar erhalten, unser Ueli Maurer ist ja vor einigen Monaten dort unten gewesen und hat mit dem katarischen Energieminister verhandelt und kürzlich hier auch den Finanzminister getroffen.

Hmmm, sagt Luca. Und schweigt wieder. Lange. Bruno schweigt auch.

Er verlangt die Rechnung, am Nebentisch reden sie jetzt über diese linke Stadt Zürich und dass man an der Bellerivestrasse bald vier Stunden im Stau stehen müsse, wegen dieser Spurverengung.

Beim Hinausgehen, der Herbst ist jetzt wirklich wie ein Sommer, tiefblauer Himmel, der Winter scheint weit weg, einige laufen auf der Strasse in kurzen Hosen und T-Shirt, sagt Luca plötzlich: Und, spielen wir nicht auch diesmal wieder gegen Serbien? Dieses Spiel möchte ich schon sehen, das wird bestimmt entscheidend sein.


«Espresso» mit Bruno und Luca war von 2014 bis 2016 eine Kolumne im «Tages-Anzeiger». Auf diesem Blog lebt sie wieder auf.
 

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