Boote und Kommas


Manchmal kommt eine Idee, und man weiss nicht, wohin sie führt, und wenn ich das schreibe, kommt mir Martin Suter in den Sinn, der kürzlich, bei einem Interview zur Premiere des Filmes mit ihm und über ihn, gesagt hat: Er müsse immer den Anfang und den Schluss eines Textes wissen, es gäbe keinen ersten Satz, ohne den letzten im Kopf zu haben.

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Ich habe weder einen ersten und schon gar nicht den letzten Satz im Kopf. Aber, nochmals Suter, er erwarte schon, wenn er sich an den Laptop setze, dass am Abend auf dem am Morgen leeren Bildschirm etwas stehe, «und ich habe noch nie erlebt, dass nichts steht, aber ich habe schon oft erlebt, dass es nicht so gut war, wie ich es wollte.»


Vielleicht wird es ja so.

Die Inspiration hole ich mir bei Mani Matter, dem Berner Liedermacher und Autor, und in einem Buch von ihm, «Sudelhefte-Rumpelbuch» heisst es, mit Tagebuchnotizen, Geschichten und Gedichten, und 1959 hat er geschrieben, es ist das Kapitel 20 seines Tagebuchs I:

«Um schreiben zu können, muss man ein Stadium erreichen, wie es sich manchmal, in späten Abendstunden, beim Sprechen einstellt: wo sich Gedanken mühelos in Worte verwandeln, als ob es keine Formulierungsschwierigkeiten gäbe, wo die Worte aus der Feder laufen, wie Feuerwehrleute bei einem Alarm: dem Ziel verpflichtet, ohne an die Schritte zu seiner Erreichung zu denken, instinktiv und ohne zu fürchten, dass sie die Treppe hinunterfallen könnten. Sobald man aus dieser Gefühlslage in jene andere kommt, wo jedes Wort problematisch wird, wo einem plötzlich die tausend Möglichkeiten des Satzbaus in den Sinn kommen und man sich vorkommt, als müsse man das Bild seiner Gedanken in Granit meisseln, jeden Schlag vorher wohl überlegend und mit Kraftaufwand ausführend, wenn man da hineinrutscht, kann man ebenso aufhören, denn man hat die Intuition dann verscheucht und wird sie sobald nicht wieder herausholen können.» Und das Kapitel endet so: «Anderseits ist zu erinnern an den Ausspruch Wildes über die Arbeit des Dichters: ‚Was hast du heute morgen getan? - Ein Komma eingesetzt! - Und am Nachmittag? - Hab’ ich’s wieder weggenommen.‘»

Es ist abends, noch nicht spätabends, aber die Sonne, die heute nochmals schien, als wäre es immer noch Sommer, geht am Horizont des Meeres unter, die vielen Lichter der kleinen Stadt leuchten, ich bin in Lipari, dieser wunderbaren sizilianischen Insel im Tyrrhenischen Meer.


Und schaue runter auf den kleinen Hafen. Häfen sind wie Bahnhöfe, und ja, Mani Matter, sein Lied über diese, über den Zug, der «geng scho abgfahren isch oder no nid isch cho».

Es ist so, in diesem Moment auf der Insel, auch bei Schiffen, kleinen Booten und grossen, es ist noch so hell, dass man sie sieht, aber doch schon so dunkel, dass in der Dämmerung bald nur noch ihre Lichter zurückbleiben und sie verschwinden.

Sie kommen von irgendwoher, im Fahrplan würden wir herausfinden von wo, und gehen irgendwohin, vielleicht rüber auf das Festland, das ja auch eine Insel ist, einfach eine grosse, Sizilien, rüber nach Milazzo, vielleicht weiter weg, nach Palermo, oder noch weiter, nach Neapel, gar Genua, oder auch nur auf eine der kleinen Nachbarinseln, Stromboli, Vulcano oder Salina, es hat noch drei andere.

Ich weiss es nicht, sehe einfach die Schiffe, es sind Fähren, grössere und mächtige, kleinere, Aliscafi,  Tragflügelboote, auch Segelschiffe sind unterwegs, wunderbare, mit hohen Masten, stolz sehen sie aus, und auch einige kleine Boote, wohl nicht solche von Fischern, die gehen am Morgen raus aufs Meer, aber von hier oben, auf dem Hügel über Lipari, sieht man nur sie; keine Menschen, man weiss nicht, sind diese gehetzt und gestresst vom Tag, jammern sie, weil sie ein Schiff verpasst haben oder eines nicht gekommen ist, oder geniessen sie es einfach, wegzufahren, irgendwohin, nach Hause oder vielleicht zu einem Rendez-vous, oder vielleicht haben sie schon eines, ein intimes Rendez-vous auf einem kleinen Ruderboot in der anbrechenden Dunkelheit der Nacht.


Solche Gedanken kommen, es sind jetzt schon späte Abendstunden, wie Matter sie beschreibt, wo Gedanken sich mühelos in Worte verwandeln, aber vielleicht ist es ja wie es Suter sagt, dass der Bildschirm zwar nicht mehr leer, aber das, was zu sehen ist, nicht dem entspricht, was man eigentlich schreiben wollte.

Und deshalb nochmals Matter, sein Kapitel 31 im Tagebuch II: «Dass einer von einem Standpunkt aus, den wir nicht teilen, seine Betrachtungen anstellt, heisst nicht, dass diese Betrachtungen für uns wertlos sind. Es ist möglich, dass er von dort aus Dinge sieht, die uns von unserem Standpunkt aus entgehen.»

Der letzte Satz ist also nicht meiner. Die Gefühlslage kippt eben im Laufe der Nacht. Ich setze nur noch Kommas ein und nehme sie wieder weg.



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