Warum? Pippo, die Stones, der Boss, andere


Es gibt keinen besseren Ort für sein Konzert, als in diesem prunkvollen Haus, es ist für ihn ein Konzert aus tiefem Herzen. Die Schlussszene von Francis Ford Coppolas Film «Der Pate III» wurde hier einst gedreht, und es steht für den Kampf gegen die Mafia, für die politische und kulturelle Wiederauferstehung der Stadt. Wegen mafiöser Baupolitik war es für 20 Jahre geschlossen. Nur dank dem Bürgermeister Leoluca Orlando fand es wieder seinen alten Glanz.

Das Teatro Massimo ist eines der schönsten Opernhäusern Europas, in Palermo, dieser Stadt, die sich so verändert hat in den vergangenen Jahren. Sie ist jetzt eine Stadt der Lebensfreude und der Lebenslust, der Farbe, des Lichts, des Duftes des Meeres, der Gaukler, der Strassenmusiker, der Künstler und der Handwerker, des Flanierens, der Natürlichkeit und der vielen Hochzeiten, fast ständig in jeder Kirche. Es ist die Stadt des Lebens auf den Gassen und den Strassen und in der die Nacht kein Ende zu nehmen scheint, weil alle draussen und fast alle lachend und geniessend sind, mit südlicher Leichtigkeit.

Orlando, 2o Jahre lang Bürgermeister, tritt ab an diesem Wochenende, er ist 75, er wäre gerne noch länger geblieben, doch er darf nicht mehr, weil seine maximale Amtszeit vorbei ist. Draussen vor dem Theater haben sie Wahlkampf geführt, es ist Freitagabend, auf einer kleinen Bühne, und es ist wie immer auch etwas sehr viel italienisches Theater, laut und schrill, komödienhaft, es wird gegen den Kandidaten geschrien und gelästert, mit dem das Gespenst der Mafia in Palermo wieder lebendig würde.

Mit Orlando war alles besser gewesen und so vieles schöner geworden, jetzt sitzt er im Teatro drinnen im Publikum, in der ersten Reihe.

Pippo Pollina im Teatro Massimo in Palermo.

Und Pippo Pollina und sein wunderbares Orchester spielen, es war sein grosser Wunsch gewesen, noch einmal hier aufzutreten. Pollina ist in Palermo geboren, er flüchtete einst aus der Stadt, wegen Korruption und der Mafia, er wurde Strassenmusikant und lebt seit 30 Jahren im Zürcher Seefeld.

Es verbindet ihn viel mit Orlando. Und deshalb ist er hier, im Teatro Massimo – ein letztes Mal, sagt er. Er passt mit seiner Musik so gut an diesen mystischen Ort. Aber ohne Orlando mag er wohl nicht mehr.

Er singt seine Lieder aus seinem neuen Album «Canzoni segrete», geheime Lieder, eigentlich war das Album, es ist sein zwanzigstes, und die Konzerte schon lange geplant gewesen, Corona verzögerte alles. Er schreibt zu seinem Album, sein vielleicht bestes und schönstes, sein Umschlag ist schlicht gehalten, mit Vögeln, die fliegen und auf einer Leitung sitzen, er schreibt: «Es wäre schön gewesen, zu fliegen. Wir hätten andere Seiten in den Geschichtsbüchern geschrieben und aufgehört, uns mit überflüssigen und manchmal schädlichen Fragen zu quälen. Sich zu befreien, hätte bedeutet, jene kindliche Dimension in uns zu bewahren. Gegen die Zeit, weil sie gleich wichtig wie notwendig ist für eine gesunde Entfaltung. Denn das Kind in uns verschwindet nicht mit dem Wachstum, es wird einfach in eine dunkle und unordentliche Ecke verbannt.»

Warum Pippo Pollina? Ich verstehe manches nicht auf Anhieb, was er singt, eigentlich vieles nicht und muss nochmals nachhören und nachsehen und übersetzen lassen, aber ich spüre, seit ich seine Musik entdeckt habe, es passiert etwas in mir, sie geht tief, berührt, und im Teatro denke ich, die Reliefs an den Emporen haben zwischendurch mitgesungen an diesem einmalig-schönen Abend.

Warum ist es so?

Bruce Springsteen, 2016 in Mailand.

Warum sass ich letzte Woche stundenlang vor dem Laptop? Verzweifelt, hoffend und bangend, dass es klappt mit Tickets irgendwo in Europa, in Barcelona, in Rom, in München oder Monza vielleicht. Noch ein Konzert neben Zürich, noch ein Abend, ein unvergessliches Erlebnis mit ihm, mit Bruce, dem Boss, Springsteen.

An so vielen Orten habe ich ihn schon gesehen und gehört und war immer wieder entzückt und entrückt, und es hat mich aufgewühlt. Einmal, in Madrid im legendären Bernabeu, dauerte sein Konzert in einer schwülen Sommernacht weit über vier Stunden und bis fast morgen um zwei, und ich konnte nachher nicht schlafen bis die Sonne wieder aufging. 

         Springsteen als Überraschungsgast bei Coldplay in New Jersey (Youtube)

Und während ich versuchte, Tickets zu ergattern, hörte ich auf Youtube, wie er vor einigen Tagen als Überraschungsgast in New Jersey, seinem Bundesstaat, bei einem Konzert von Coldplay erschien, auf die Bühne trat und «Dancing in the Dark» sang, zusammen mit Coldplay-Sänger Chris Martin. Himmlisch wars.

Und ich sass weiter verzweifelt vor dem Laptop, Nummer 10 598 in der Warteschlange für das Konzert in München.

Die Rolling Stones 2017 in Zürich.

Warum nächsten Freitag im Wankdorf in Bern die Stones? Dabei war ich doch in jungen, sehr jungen Jahren für die Beatles. Aber jetzt will ich unbedingt nochmals dabei sein, besonders nach dem letzten Konzert im Letzigrund, 2017 war es, bei dem ich schon glaubte, es sei das letzte dieser Band, es muss doch ihr letztes sein, denn sie sind so alt. «Satisfaction», jetzt nochmals, ein wirklich letztes Mal, denke ich.

Campino 2021 in Kemptthal.

Warum die Toten Hosen? Weil Campino in einem Stadion so stadionlike ist, er und seine Band passen so gut an solche Orte, an Tagen wie diesen, aber auch, dieses Lied geht so nah und ist privat, aber es bedeutet mir viel: «Nur zu Besuch» heisst es, 168mal, aktueller Stand, hat er es bisher bei Konzerten gesungen – auch im Letzigrund in Zürich? Vielleicht auch auf der Piazza in Locarno? Ich wünsche es mir.

Warum Elton John? Eigentlich war es 2019 gedacht im Hallenstadion, jetzt wird es 2023 in Zürich, aber kürzlich war er in Bern, eine weitere Etappe auf seiner «Goodbye Yellow Brick Road Farwell Tour». Seit 2018 ist sie geplant, wegen Corona wurde sie unterbrochen, und Zürich wird einer der letzten Auftritte von Elton John sein, nach über 300 Konzerten. Jene, die jetzt in Bern waren, schwärmten nachher. «Ich bin zum letzten Mal hier» sagt Elton John jeweils zum Abschluss. Im Publikum sind Omas und Opas und ihre Enkelkinder und finden ihn alle grossartig.

Herbert Grönemeyer 2015 in Freiburg im Breisgau.

Warum Herbert Grönemeyer? «Wir wollten endlich wieder raus und mit Euch Musik machen. Darauf haben wir seit langer Zeit hingefiebert, waren bis in die Zehenspitzen vorbereitet und parat», schrieb er. Es wurde nichts mit der «Mensch»-Tournee, Corona in der ganzen Band, Absage vor dem ersten Auftritt und gleich für alle anderen Konzerte, auch in München – jetzt habe ich Tickets für 2023.

Warum Jane Birkin? Vielleicht, im Engadin in diesem Sommer. In ihrem neuen Album erzählt sie von den Höhen und Tiefen ihres bisherigen Lebens und von Abschieden, sie ist 75, die gebürtige Engländerin, die längst Französin ist. Vielleicht auch ein letztes Mal, ich überlege es mir noch.

Warum?
Leonard Cohen: Er fehlt.

Und ich würde alles geben, um nochmals Leonard Cohen zu erleben. Nur noch einmal, wie schön wäre es. Zuletzt sah ich ihn in Montreux, 2013, drei Jahre später starb er. Und er hatte doch immer gesagt, man wisse nicht, ob man sich nochmals sehen werde; er hob dabei seinen Hut, dieser Gentleman, Sänger und Dichter, verabschiedete sich, trat von der Bühne, demütig, und wir waren melancholisch und verliebt in seine Stimme und seine Poesie und seine Botschaften, die ja auch immer wieder so düster waren. Noch einmal, es wäre so schön.

Und er, Bob Dylan? 81 ist er. Kommt er noch einmal? in Kalifornien spielt er gegenwärtig, im Herbst, heisst es, soll er nach England kommen. Und nochmals, vielleicht auch 2023, in die Schweiz? 

Ach, seine Konzerte, wir hörten ihn oft, verstanden ihn kaum, sahen ihn manchmal nicht, weil er seinen Hut so tief ins Gesicht gezogen hatte, und noch nie hat er ein Wort, nur ein einziges Wort zu uns gesagt, nur gesungen, und immer wieder verändert er Songs so, dass sie kaum mehr erkenntlich sind.

Warum, warum, warum, Pippo, die Stones, der Boss, die Toten Hosen, Elton John, Grönemeyer, vielleicht Birkin, Cohen, Dylan?

Kurt Kister, einst Chefredaktor der «Süddeutschen Zeitung», und er liebt die Rockmusik, schrieb kürzlich einen Text zum langen Abschied der grossen Helden des Popzeitalters. Er hat 1976 erstmals die Stones gesehen, und hätte ihm jemand damals gesagt, er würde im Jahre 2022 nochmals auf ein Stones-Konzert in München gehen, dann hätte er gedacht, «der Kerl hätte zu viel von dem genommen, was man damals in den dunkleren Ecken des Città in Schwabing kaufen konnte». Kister ging 2022 wieder ins Olympiastadion und schrieb: «'I see a red door and I want it painted black, singt Mick Jagger seit 1966 in vielen Konzerten. Die Tür und alles andere will er schwarz gestrichen haben, weil seine Liebe, seine Geliebte nie mehr zurückkommt. Da sind die Stones selbst natürlich aus anderem Holz. Die kommen einfach immer wieder.»

Einmal kommen auch sie nicht mehr.

Vielleicht, ich denke, in Bern, sind sie zum letzten Mal. Deshalb gehe ich. Mick Jagger, wir werden an den Grossbildschirmen seine tiefen Falten im Gesicht sehen und er wird sich in seinem schmalen Körper verrenken und rennen, als wäre er 20. Er sagte einmal, er wäre lieber tot, als mit 33 noch zu singen.

Nächstes Jahr wird er 80.

Jean-Martin Büttner, der so wunderbar über fast alle dieser Helden von einst und immer-noch-heute schreibt und so viel versteht von ihrer Musik, schrieb schon 2014 nach dem Stones-Konzert in Zürich: «Es dürfte die letzte Tournee der Rolling Stones gewesen sein. Zum ersten Mal wünschte man sich, sie würden sich daran halten.» Und schon zuvor, vor zehn Jahren, als er ihr 50. Jubiläumskonzert in London gesehen hatte, dachte er: «Hoffentlich hören sie nach dieser Tournee auf.»

Jetzt sind sie immer noch da, ihre Tournee nennen sie «Sixty». Vor 60 Jahren hatten sie im Marquee Club in London ihr erstes Konzert gegeben.

Ich liebe Musik, ich verstehe aber zu wenig davon, und deshalb möchte ich, dass all die Stones-Springsteens-Dylans-Johns-Hosens-Grönemeyers-Birkins nie aufhören, Pippo sowieso nicht und Cohen nochmals vom Himmel herab steigen könnte, noch einmal, mit seinem Hut, und er kann ja dann sagen, es sei jetzt wirklich das letzte Mal. Venedig war noch nie so schön wie mit ihm, damals auf dem Markusplatz.

Roger Federer und seine poetische einhändige Rückhand.

Und deshalb, bitte, bitte, Roger Federer, komm zurück, du kannst auch verlieren, es ist völlig unwichtig, aber noch einmal dein Spiel, deine Poesie mit dem Racket, noch einmal deine Rückhand mit einer Hand, mit nur einer Hand, dieses Bild, diese Kunst, diese Harmonie, dieses Glück sehen zu dürfen und einfach nur zu staunen.

Noch einmal, Roger Federer. Und dann vielleicht noch einmal. Mindestens.

In seinem wunderschönen Lied «Come una felicità improvvisa» (Wie ein plötzliches Glück) singt Pippo Pollina im Refrain: «Nimm es, nimm du es, bevor es davonläuft. Halt es fest, halte es und bleib bei ihm.»

Er meint damit das Leben. Wie in Palermo.

Und dann kam diese laue Sonntagnacht bei Vollmond. «La lunga notte rosanero» schrieb das «Giornale di Sicilia» auf der Frontseite als Vorschau, und er war in allen Zeitungen das Thema, Matteo Brunori, «Il bomber», der Mann der vielen Tore für den Palermo Football Club, der 2019 in die Serie D zwangsrelegiert worden war.

Und jetzt schoss Brunori am Abend im Playoff-Rückspiel das 1:0, es gab das erste Feuerwerk über der Stadt, Raketen flogen in den Himmel, am Ende blieb es beim 1:0 gegen Padua, und Palermo steigt auf in die Serie B, und es wurde eine lange, lange Nacht, mit einem noch grösseren Feuerwerk und Tausenden in den Strassen, 33 000 waren im überfüllten Stadion gewesen. Palermo im rosaschwarzen Fieber.

Palermo in rosa, am Sonntagabend kurz nach elf Uhr.

Brunori, ausgeliehen von Juventus, gehörte übrigens zu jenen, die am Freitag geheiratet haben. Covid hatte es früher verhindert, jetzt durfte er, obwohl das grosse Spiel anstand, der Trainer hat es ihm erlaubt, samt der Hochzeitsnacht. Er bedankte sich. mit seinem 30. Tor in dieser Saison.

Doppelt glücklicher Brunori, glückliches Palermo. Von einem «Paradiso Palermo» schreibt anderntags die «Gazzetta dello Sport».

... und nachher auf den Strassen.

PS: Aber doch ein Abstieg am Abend des Aufstiegs, Fast gleichzeitig mit dem Feuerwerk über der Stadt sickerte durch, dass Roberto Lagalla, der Kandidat des rechten Lagers, zum neuen Bürgermeister Palermos gewählt wurde, im ersten Wahlgang und als Nachfolger des geliebten Orlando. Lagalla ist im Wahlkampf auf Plakaten in der Stadt von seinen Gegnern als Baby mit einem Nuggi im Mund abgebildet und verhöhnt worden, als Zeichen, dass er in den Fängen der Mafia sei.

Ein Paradies im Fussball, aber jetzt dann im Alltag, nach dieser Wahl: Kann Palermo auch noch morgen glücklich sein? Die Mafia, die in Sizilien Cosa Nostra heisst, komme zurück, befürchten viele.

Roberto Lagalla, der neue Bürgermeister Palermos, verhöhnt im Wahlkampf als Baby mit einem Nuggi.


PS2Und dann auch das noch: Mick Jagger von den Stones ist am Montag an Corona erkrankt, das Konzert in Amsterdam musste wenige Stunden vor Beginn abgesagt werden. Und seit Dienstag steht fest: Auch das Konzert in Bern am Freitag kann nicht stattfinden. Es soll aber in diesem Sommer noch nachgeholt werden.

Auf der offiziellen Website der Stones




 

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