Fluchend unter dem Hotelbett

Einst war es ein langer Weg, bis ein Text in der Zeitung stand. Viermal musste er abgeschrieben werden. Und wir waren oft mehr Techniker als Journalisten. Mussten manchmal auch unter das Bett kriechen. Heute wird ein Text innert Millisekunden übermittelt. Von überall. Auch aus einem Pool.
 Dies ist eine lange Geschichte über einen langen Weg.

Ich war 13 oder 14, noch Schüler, da schickte ich in einem Couvert – die Briefmarken kosteten 20 oder 30 Rappen – ein Gedicht an die Redaktion der Zürichsee-Zeitung, die ihre Büros damals noch in Stäfa hatte. Es gab in der Zeitung eine «Jugend-Seite». Ich war so stolz auf das, was ich geschrieben hatte, mein erstes Gedicht. Es ist nie veröffentlicht worden, einige Tage später hatte ich einen Brief von der Redaktion bekommen, sie würden sich bedanken, aber leider hätten sie keine Verwendung dafür. Es tat weh.

Einige Jahre später durfte ich für die Zürichsee-Zeitung schreiben, über Handballspiele meines Klubs, einmal schoss ich in einem Spiel viele Tore, aber ich konnte das natürlich nicht herausheben, lediglich bei der Aufstellung: Wettstein (13). Bald schrieb ich auch über den SC Küsnacht, der damals noch in der Eishockey-Nationalliga B spielte. Ich durfte jeweils mit der Mannschaft im Car mitfahren, nach Davos beispielsweise, bei der Rückfahrt schrieb ich den Matchbericht von Hand in ein Heft.

Zu Hause, es war nach Mitternacht, tippte ich alles ab, auf einer grossen schwarzen Schreibmaschine, die mein Vater in seinem Büro hatte. Und dann, es war meistens frühmorgens um drei, vier Uhr, fuhr ich mit einem alten Döschwo, meinem ersten Auto, durch die Nacht von Küsnacht nach Stäfa, warf meinen Bericht in einen Briefkasten.

Wie es damals mit meinem Text weiterging, wusste ich noch nicht. Sehnlichst wartete ich am anderen Tag auf die Zeitung, die um elf von Verträgern nach Hause gebracht wurde.

Die Zürichsee-Zeitung wurde dann später meine erste Arbeitsstelle.

Und nun erlebte ich, wie es weiterging mit Texten, die von irgendwoher nachts im Briefkasten landeten. Morgens um vier begann der Früh-Redaktor. Er redigierte diese Texte, riss von einem Fernschreiber meterlange Papiere ab, die von der Agentur verschickt wurden, verarbeitete diese. Nachrichten aus Amerika, aus dem Zürcher Gemeinderat, Versammlungen in der Region, Unfälle, sportliche Abendereignisse, den neusten Wetterbericht, alles, was aktuell war.

Um fünf kam ein Setzer, aus den Texten entstand Bleisatz, um sechs kam der Metteur für den Umbruch der Seiten, um acht musste alles fertig sein. Die Zürichsee-Zeitung wurde damals noch morgens gedruckt und verteilt.

Damals 1978 mit der Hermes Baby unterwegs in Argentinien.

1978, inzwischen war ich beim Tages-Anzeiger, durfte ich an die Fussball-Weltmeisterschaft nach Argentinien reisen, ich hatte eine graue Hermes Baby, die heute noch in meiner Wohnung steht, mit dem vergilbten Abziehbild der WM auf dem Deckel. Ich sass im Stadion oder in einem Hotelzimmer, manchmal auch einfach auf einer Bank in einem Park oder in einer Bar, schrieb die Texte. Meistens waren es keine aktuellen Spielberichte, denn in Zürich war es schon vier Stunden später.

Die Texte wurden per Telex übermittelt. Man konnte die Manuskripte im Medienzentrum abgeben, dann kamen sie auf einen Stapel, der oft sehr hoch war. Und wenn man den freundlichen Typistinnen oder auch Typisten zulächelte und eine Tafel Schweizer Schokolade schenkte, die man zwar gerne selber gegessen hätte, dann wurden die Texte etwas nach oben geschoben, was zeitlich viel ausmachen konnte. Denn es dauerte einige Zeit, bis die Texte wieder abgeschrieben und per Lochstreifen in die Schweiz geschickt wurden.

Die Kolumnen von Uli Hoeness - und ihr langer Weg vom Appartement in Buenos Aires bis in die Zeitung 

Uli Hoeness schrieb damals für den Tagi Kolumnen, er hatte eben als Spieler wegen einer Knieverletzung schon mit 28 Jahren aufhören müssen, wurde dann Manager von Bayern München. Hoeness verfasste seine Texte von Hand, ich fuhr zu seinem Appartement mitten in Buenos Aires, und er übergab sie mir. Ich schrieb sie im Hotel auf der Hermes Baby ab, jemand im Medienzentrum tippte sie erneut, es folgte der Lochstreifen zur Übermittlung. In Zürich ging die Kolumne zum Redaktor, dann zur Korrektur, mit der Rohrpost zum Setzer im unteren Stock, der tippte wieder ab, ein Lochstreifen, jetzt der Bleisatz - das war damals der lange Weg eines Textes. Viermal wurde die Kolumne geschrieben, bis sie zum Druck bereit war.

Pressierte es oder stand kein Telex zur Verfügung, mussten die Texte telefonisch durchgegeben werden. Wir sassen auf der Pressetribüne, irgendwo in einem Stadion, es war laut, vor uns auf meist schmalen Pulten die Hermes Baby, irgendwie auf den Knie das Telefon, die Ellbogen der Journalisten links und rechts manchmal in den Rippen, und dann der Versuch einer Verbindung mit dem Sekretariat auf der Redaktion. Man brauchte manchmal viele Anläufe, weil das Telefon in Zürich besetzt war oder sonst keine Leitung zustande kam. Wir schwitzten fürchterlich. Und fluchten.

Dann diktierten wir, die Person zu Hause hörte mit, verstand wegen des Lärms irgendeinen Namen nicht - «bitte buchstabiere es nochmals!» – «Maradona, M wie Maradona, nein, wie Monika, A wie Anna, R wie...» Das Diktierte wurde auf Tonband aufgenommen, musste wieder abgeschrieben werden. Bei der NZZ sollen die Frauen oder Männer auf dem Sekretariat neben dem Mithören noch stenografiert haben, zur Sicherheit.

Das erste Computer-ähnliche Gerät hiess Scrib. Es war ein Ungetüm, sicher 15 kg schwer, breit und gross, versehen mit einem kleinen Tonband, einer Mikrokassette und einem Telefon, das Monstergerät soll 17 000 Franken gekostet haben. Mein Kollege Peter Spycher nahm den Compi mit nach Moskau zu den Olympischen Sommerspielen 1980. Man habe auf diesem Gerät, erzählt mir Martin Born heute mit freudiger Stimme und leuchtenden Augen, ein Programm mit Skirennen laden können, und sie hätten damals stundenlang gespielt. Ich arbeitete nie mit einem Scrib.

Olivetti M10 und das Problem mit den Kopplern.

Dafür aber anfangs der achtziger Jahre auf einer Olivetti M10, sie wurde stolz als Personal Computer angepriesen. Während ich mich an meinen ersten richtigen Computer nicht mehr erinnern kann (war es ein Toshiba, ein Commodore?), ist mir dieses Gerät noch genau vor Augen: grün-gräulich, nicht viel grösser als ein A-4-Blatt, scharfe Kanten, auf dem Display konnte man sieben oder acht Zeilen lesen, der Speicherplatz war gering, er reichte für sechs oder sieben Texte. Man musste immer genügend Ersatzbatterien mitführen, für die Übermittlung brauchte es einen Akustikkoppler, den man an den M10 anschloss.

War man irgendwo unterwegs, war nur eine Frage wichtig: Kann ich auch übermitteln? Und die Koppler mit den zwei runden Gummimuffeln, in welche die Telefonhörer gepresst werden mussten, waren das Problem. In der Schweiz selten, im Ausland jedoch, vor allem in Italien, waren sie in den Hotels und Stadien oft eckig. Nichts ging.

Meine Rettung in Mailand war jeweils eine Kabine in der Via Giuseppe Mazzini nahe des Domplatzes. Ich warf oben im Schlitz möglichst viele Lira-Münzen in den Apparat, kniete nieder, die M10 auf den Oberschenkeln, presste den Hörer mit aller Kraft in die Muffeln, wählte eine Zürcher Nummer. Plötzlich brach aber die Leitung ab. Zu wenig Geld eingeworfen, alles von vorne.

Manchmal war unvermittelt kein Text zu sehen, es erschienen nur Hieroglyphen auf dem Display ­­– ein sichtbar-schlechtes Zeichen, so kam der Text fast nie lesbar in Zürich an. Also nochmals alles von vorne. Draussen vor der Kabine warteten Leute, die auch telefonieren wollten, machten genervt Handzeichen, keine freundlichen. Es war in der Kabine stinkig warm, der Text sollte schon längst auf dem Bildschirm in Zürich sein, der Redaktionsschluss nahte.

Die Suche nach einer Telefonkabine - und viele Lire im Sack.

Und Lire hatte ich auch fast keine mehr, denn ich brauchte noch einige für einen Anruf nach Zürich:

   «Ist er angekommen?» fragte ich bange.

   «Nein.»

   «Was! Er ist bei mir aber durch.»

Nach einigen Augenblicken, ich schwitzend schon wieder bereit, es nochmals zu versuchen – und eben draussen warteten die anderen, klopften ungeduldig an die Glaswand: «Jetzt, ja, jetzt, er ist gekommen. Danke, Ciaooo!» Ich war erleichtert. Der nächste betrat nun fluchend die Kabine, mit bösem Blick.

Und es gab viele Momente, die im Kopf bleiben, verzweifelte Versuche, einen Text in die Schweiz zu übermitteln. Einmal nach einem Spiel, war es in Sofia oder in Bukarest? Es war unmöglich, im Stadion eine Verbindung herzustellen, ich rannte hinaus in die dunkle Nacht, wusste, das Hotel war in der Nähe, kannte die ungefähre Richtung, aber irrte doch umher, immer den Koffer mit der Olivetti, dem Koppler, verschiedenen Kabeln und Steckern in der Hand. Irgendwann fand ich das Hotel, rannte hinauf ins Zimmer, war völlig verschwitzt und keuchte, aber eigentlich war es bereits zu spät, der Redaktionsschluss vorbei. Der Bericht erschien nur noch in einem kleinen Teil der Auflage.

Eine vornehme Lösung, wie es sich für diese Zeitung gehört, fand einmal ein lieber Kollege von der NZZ: Er reiste mit dem Taxi aus Leeds zu einem Spiel nach Liverpool, befürchtete dort Probleme beim übermitteln, liess das Taxi vor dem Stadion warten und sich nach dem Schlusspfiff sofort zurück ins Hotel fahren, anderthalb Stunden ein Weg. Seinen Bericht schrieb er im Auto. Wieviel die Taxifahrt kostete, weiss ich nicht.

Aber die NZZ war technisch einige Male einen Schritt voraus, wir mussten staunen, wie es ihnen schon früh möglich war, mehr oder weniger direkt ins Layout zu schreiben, und sie hatten bei verschiedenen Grossanlässen, wie beispielsweise bei den Olympischen Sommerspielen in Seoul 1988, extra aus Zürich einen Techniker eingeflogen, der ihnen im Medienzentrum im eigenen Büro alles installierte - aber, das muss gesagt sein, auch uns von der Konkurrenz helfend zur Seite stand, wenn wir wieder einmal stöhnend am Boden lagen mit irgendwelchen Kabeln in der Hand.

Die nächste Stufe waren keine Koppler mehr, sondern Modems, jetzt nicht mehr die Telefonhörer, sondern Kabel und Stecker für eine Telefonverbindung waren das Problem. Und wir Journalisten wurden endgültig zu Technikern, der Text und unser eigentlicher Job waren zweitrangig, es interessierte nur, ob der geschriebene Bericht überhaupt je auf der Redaktion ankommen wird.

Wir bezogen in einem Hotel das Zimmer, lagen bald einmal am Boden, unter einem Tisch, manchmal unter dem Bett oder suchten hinter dem Schrank verzweifelt den Telefonanschluss. In unserem Gepäck hatten wir immer einen Schraubenzieher und verschiedene Stecker, mit der Zeit einmal für jedes Land einen anderen.

Nicht mehr Journalist, nur noch Techniker.

Wir lagen flach, fluchten, hatten ein Kabel in der Hand und einen Stecker, und manchmal war es das falsche Kabel und/oder der falsche Stecker, und wir wussten nicht mehr weiter. Und wenn es endlich eine Lösung gab und das Kabel und der Stecker in irgendeinem Hotel in irgendeinem Land passten, dann war oft die Leitung zu schwach, gab es störende Geräusche oder sonst etwas ging nicht. Nicht mehr rot-grün, sondern nur noch rot leuchtete auf dem Modem auf. Keine Verbindung. Wir blieben halbe Nächte lang wach.

Knochen nannten wir die ersten Handys – und dem Kollegen aus Wien wurde wegen zu hoher Rechnung gekündigt 

Dann kam die Zeit mit den ersten Handys, Natel hiessen sie, klobige Dinger waren es, schmal, aber lang. Knochen sagten wir ihnen, die Antenne musste man jeweils herausziehen, der Akku hielt nicht lange. Ich weiss noch, wie ein österreichischer Kollege in Barcelona bei den Olympischen Sommerspielen 1992 beneidet und bestaunt wurde, er telefonierte ständig und überall mit seiner Redaktion von «Täglich alles» in Wien. Allerdings bekam er, wie wir erst später erfuhren, zu Hause die Quittung - auf 70 000 Schilling belief sich die Rechnung für seine Telefongespräche, nach heutiger Umrechnung knapp 6000 Franken. Er erhielt die Kündigung.

Aber natürlich, es war revolutionär, das Telefon im Hosensack, ein Spielzeug, das uns faszinierte, und in dieser ersten Zeit gab es sicher manchmal solche Gespräche:

  «Hallo! Ich wollte mich nur rasch melden.»

  «Ist etwas, wo bist du?»

  «Auf einem Parkplatz, irgendwo zwischen Stockholm und Göteborg, es ist 30 Grad warm, ich schwitze.»

  «Und ...?»

  «Einfach so, ich wollte mich nur melden.»

  «Melde dich wieder, wenn du im Stadion bist!»

Der Kollege in Zürich auf der Redaktion hängte auf und schüttelte wohl den Kopf. Warum hat der überhaupt angerufen?

Aber die Handys, die dann bald einmal etwas handlicher wurden, die ersten ohne externe Antenne waren die Nokia 3210, konnte man irgendwann an die erste Variante von kleinen Laptops anschliessen. Man war jetzt unabhängig vom Festnetz. Alles war jetzt einfacher, die Kosten waren aber oft sehr hoch. Ein Kollege von mir kam 1998 aus Frankreich von der Fussball-WM zurück und brachte eine Rechnung von über 3000 Franken mit - er bekam keine Kündigung.

Das Problem war damals, dass an vielen Orten noch kein Handynetz funktionierte - also blieb für das Übermitteln der Texte oft wieder nur das Telefon oder die Variante Fax. Papier an einem Ort rein, am anderen Ort wieder raus, früher gab es dafür spezielle Fax-Geräte. Eines dieser wohl letzten Geräte steht in einer Villa hoch über dem Tegernsee, sie gehört Uli Hoeness, der keine Mail-Adresse hat, selber keine SMS schreibt, WhatsApp schon gar nicht kennt, und dem die Reporter, wenn sie mit ihm etwas abmachen wollen, noch heute einen Fax schicken müssen. Manchmal staut das Papier. Die Nachricht erreicht Hoeness nicht.
Überall schreiben, überall übermitteln können.

Aber heute, mit der modernen Technik, können Journalisten wieder Journalisten sein. Diesen Text schrieb ich auf meinem Mac, zwischendurch auf dem Ipad und einige Abschnitte auch auf dem Iphone in einem Bistro im Zürcher Seefeld. Dank Google Docs war der Text stets auf allen Geräten auf dem gleichen Stand. Und übermittelt kann er innert Millisekunden von überall, im Zug, in einem Restaurant, in einer Berghütte, in der Badi. Man muss unter kein Bett kriechen, um einen Anschluss zu finden.

13 213 Zeichen oder 2098 Worte zeigt es an bis zu dieser Stelle. Auf der Hermes Baby hätte ich mechanisch eine Tabulatorentaste einstellen müssen, um eine Zeile auf eine bestimmte Anzahl Zeichen zu beschränken. Es werden ungefähr 120 Zeilen hat man damals der Redaktion versprochen. Und zwischendurch hat das Farbband geklemmt. Ist das Papier gerissen. Kam der Ellbogen des Kollegen. Schüttelte jemand sein Bier über die Maschine. Fiel das Telefon auf den Boden. Paffte der nebenan ständig. Geschlottert hat man in der winterlichen Kälte im Stadion. Und gebangt habe ich: Klappt es mit dem Übermitteln?

Nur das Gedicht liegt noch irgendwo im Keller in einer Schublade.


Bequemes Arbeiten heute, im «Totò» oder «Serge» im Zürcher Seefeld.


(Dieser Text erschien erstmals im Magazin «Schweizer Journalist:in». Er ist etwas ergänzt)
 

Kommentare

  1. Anonym22.5.22

    ... und trotzdem hat sich nach Meinung vieler, der Journalismus nicht verbessert, obwohl sie doch mehr Zeit dazu hätten. Woran liegt das?

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  2. Anonym3.6.22

    grossartig

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