Grenzenlos

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Es war 1982, Andrea Marco Bianca, damals 21, er hatte eben sein Theologiestudium begonnen, musste als Füsilier in seinen ersten WK einrücken, irgendwo im Bündnerland. Er nahm seinen Sony Walkman mit, hatte sich vorher eine Kassette mit Musik zusammengestellt, Rock, Punk, was er liebte, Musik von AC/DC, den Scorpions oder Genesis und auch einige Lieder von Chris de Burgh, dem Sänger aus Irland, dessen Karriere eben erst begonnen hatte.

Und eines nachts hörte er das Lied «Borderline», diese Ballade von einem Liebespaar, das durch den Krieg getrennt wird, vom Soldat, der nicht weggehen will, aber doch geht, weil ihn die Pflicht des Landes ruft, von der Hoffnung, dass es irgendwann auf der Welt mal keine Grenzen mehr gibt. Der Text, die Musik, liess Bianca nicht mehr los, er hörte das Lied immer wieder, damals, als er sich fragte: Was ist und bringt Theologie? Was ist Militär, und wäre es nicht konsequent, den Dienst zu verweigern, wie es andere machten?


Eines wusste er: Er will seinen Dienst leisten, aber nicht als Füsilier. Er wollte Armeeseelsorger sein, er blieb es bis heute.

Chris de Burgh und Andrea Marco Bianca in der Kirche Küsnacht.

Und eines sagte ihm «Borderline» auch: Man darf den Glauben nicht verlieren, dass eines Tages etwas möglich ist, man muss vielleicht einfach warten können. Aber es darf doch nicht wahr sein, dass immer jemand verlieren muss.

Borderline

Ich stehe am Bahnhof
warte auf den Zug, der mich zur Grenze bringen wird
und meine Geliebte ist weit fort.
Ich beobachtete eine Gruppe Soldaten auf dem Weg in den Krieg
und konnte es fast nicht aushalten, sie gehen zu sehen.

Wir walzen durch das Land,
mit Tränen in meinen Augen
erreichen wir die Grenze.
Ich bin fertig mit meinen Lügen.
Und am frühen Morgen sehe ich sie dort,
und ich weiss, das ich mich wieder verabschieden muss.

Und es bricht mir das Herz, ich weiss was ich zu tun habe.
Ich höre wie mein Land mich ruft ,aber ich will bei dir sein. Ich treffe meine Wahl, einer von uns wird verlieren.
Lass nicht los, ich möchte wissen, dass du auf mich wartest
bis zu dem Tag an dem es keine Grenze mehr gibt.

Ich gehe an den Grenzwachen vorbei,
strecke meine Hand nach ihnen aus, zeige keine Regung.
Ich würde am liebsten ausbrechen und davonrennen,
aber das sind nur Jungs, und ich werde nie verstehen, wie
Männer Weisheit in einem Krieg sehen können.

Und es bricht mir das Herz, ich weiss was ich zu tun habe.
Ich höre wie mein Land mich ruft aber ich will bei dir sein.
Ich treffe meine Wahl, einer von uns wird verlieren.
Lass nicht los, ich möchte wissen, dass du auf mich wartest bis zu dem Tag, an dem es keine Grenze mehr gibt.

 
«Borderline» mit Chris de Burgh in der Kirche Küsnacht.
(Video: Rainer Baer/Lokalinfo)
 
Es kam dieser Sonntag, genau 40 Jahre später, ein wunderbarer Frühlingstag, fast schon sommerlich, und abends gegen sechs - und später nochmals - warteten ganz viele Menschen vor der Reformierten Kirche in Küsnacht am Zürichsee, warteten auf das Konzert, von dem anfänglich fast alle glaubten, es sei ein verfrühter Aprilscherz: Chris de Burgh hier! In der Kirche!

Es wurden, wegen dem grossen Andrang, gar zwei Benefizkonzerte zusammen mit den Swiss Gospel Singers, dessen Leiter Christer
Løvold und die Chorsängerin Petra Keim alles möglich machten. De Burgh wollte keine Gage, es war ihm wichtig, auftreten zu können.

Und dann kam dieser Moment: Andrea Marco Bianca, er ist inzwischen seit 25 Jahren Pfarrer im Dorf, sass in der ersten Reihe, ergriffen war er, das spürte man, zwischendurch mit Tränen in den Augen - Chris de Burgh, 73, sass am Klavier und sang «Borderline». Er hatte schon damals nicht gesagt, auf was sich genau der Text bezieht, viele glaubten, es sei wegen des Krieges um die Falklandinseln, andere sahen es im Zusammenhang mit dem Konflikt in Nordirland oder mit der Mauer, die noch in Berlin stand.

Chris de Burgh: Ohne Gage für einen guten Zweck.

Es ist jedoch ein zeitloses Lied, und jetzt, mit diesem fürchterlichen Krieg in der Ukraine, zeigt sich wieder die grosse Kraft des Textes, den man auch so verstehen kann: Was ist mit den vielen jungen Russen, die gar nicht gehen wollen, aber gehen müssen? Es ist kein Anti-irgendwas-Song, es geht um Personen und nicht um Nationen.

Chris de Burgh sagte als Einleitung, er wünsche allen, dass Gott etwas ermöglicht, auch wenn man nicht an Gott glaube, dass sich das Warten lohne und sich das Gute durchsetze. Seine Tochter Rosanna hat nach mehreren Fehlgeburten ein Kind, das ihr vor drei Jahren eine ukrainische Leihmutter gebar, und die Familie de Burgh nahm jetzt wieder Kontakt mit ihr auf, versucht verzweifelt, sie aus dem Land zu bringen.

Bisher erfolglos, sie muss in ihrem Versteck bleiben, die Grenzen sind zu, sein Herz weine, sagte der Ire. «Lass nicht los, ich möchte wissen, dass du auf mich wartest bis zu dem Tag, an dem es keine Grenzen mehr gibt», so endet «Borderline».

Bianca, der das Konzert moderierte, sass also auf der Bank der Kirche, er, wie alle an diesem Sonntag, spürte wieder, welche Kraft die Musik haben kann, mehr als Worte, und sie können noch so gescheit sein, «let the music talk», das sei viel stärker.

Anstehen für ein Konzert: Noch nie kamen so viele Leute in die Kirche.

Chris de Burgh spürte dies alles bereits, als er am Nachmittag die Kirche betreten hatte. Es sei ein «place of power», ein Kraftort, sagte er, unabhängig davon, ob man gläubig sei oder nicht, und an diesem Ort sei die Musik noch viel kraftvoller. Er wollte, dass ihn Bianca fotografiert, mit einem Schal in den ukrainischen Farben und der Kirchenorgel im Hintergrund. Und Bianca hatte das Album, das er sich 1982 gekauft hatte, mitgenommen, de Burgh signierte es, und es war ihm wichtig, dass er dies auf der Vorderseite tun durfte, mit dem Menschen auf dem Bild, sehr verschwommen, in Bewegung, es kann irgendjemand sein, aber jemand, der nicht aufgibt, Grenzen überwinden will.

Was ist mit den Träumen, die du mit 20 hast, und dem Gefühl, du könntest die Welt verändern? fragte sich Bianca in der Kirche und erinnerte sich an damals, 40 Jahre ist es her, die Nacht als Soldat im Keller und die Kassette mit der Musik. Die Russen seien unser Feind, hörte man im Militär. Das wollte er so nicht stehen lassen. Seine Musik sagte ihm etwas anderes.

Jetzt warten wir auch, auf ein Zeichen der Hoffnung, auch wenn die Vision für eine Welt ohne Grenzen ganz weit weg scheint. Nochmals eine Zeile aus «Borderline»: «Ich werde nie verstehen, wie Männer Weisheit in einem Krieg sehen können.»

***


Die Spendenaktion ergab 125'000 Franken. Die UBS Optimus Foundation wird den Betrag verdoppeln. –  www.bianca.ch
 

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