Leben ist Leben
Komm, das machen wir. Luca, der Architekt, hatte den Vorschlag gemacht, und Bruno, der Werber mit den ergrauten Haaren, war sogleich einverstanden. Sie hatten an diesem Morgen ihren Espresso längst getrunken, aber sie hatten kaum miteinander geredet. Sie hatten den Tagi und die NZZ, die im Bistro immer aufliegen, gelesen, und sie hatten auch ständig auf ihre Handys geschaut, neue Push-Nachrichten waren gekommen und Bilder, schlimme Bilder von diesem Elend, diesen Bomben von Putin und einem Land, das in Schutt und Asche gelegt werden soll.
Sie hatten genug davon, genug von diesen verstörenden Nachrichten, und so sagte Luca: «Lass uns doch für zwei Tage fliehen», und er machte den Vorschlag, in das kleine Dorf im Prättigau zu fahren, wo er eine Ferienwohnung hat; eine heile Welt sei es dort, es habe wenig, eine Pizzeria, die immer gut besetzt sei, einen Volg, und einen Skilift, einen wie früher, mit Bügeln noch und vielen freundlichen Leuten.
Und schon wenige Stunden später sitzen sie in der kleinen Berghütte am Ende des Liftes, es gibt Gerstensuppe oder Wienerli, Chips aus der Tüte, hausgemachten Zwetschgenkuchen und sonst wenig. Sie sitzen auf einer Bank in der Sonne, der Himmel ist blau, und wenn nicht aus einem kleinen Lautsprecher Musik ertönt, es ist nicht ihre Musik, es sind meistens Ländler, dann gibt es in der Stille nur ein Geräusch: Der Ton des Liftes, des Seils, das über den Masten gleitet, «rrrrrrrr», fast mystisch, beruhigend jedenfalls, es tut gut.
Und schon wenige Stunden später sitzen sie in der kleinen Berghütte am Ende des Liftes, es gibt Gerstensuppe oder Wienerli, Chips aus der Tüte, hausgemachten Zwetschgenkuchen und sonst wenig. Sie sitzen auf einer Bank in der Sonne, der Himmel ist blau, und wenn nicht aus einem kleinen Lautsprecher Musik ertönt, es ist nicht ihre Musik, es sind meistens Ländler, dann gibt es in der Stille nur ein Geräusch: Der Ton des Liftes, des Seils, das über den Masten gleitet, «rrrrrrrr», fast mystisch, beruhigend jedenfalls, es tut gut.
Luca und Bruno schweigen auch hier lange, sie nehmen ihre Handys nicht hervor, blicken in die Sonne und in die verschneite Bergwelt. In der kleinen Holzhütte beim Ende des Liftes sitzt einer, im Sommer ist er Bauer, jetzt arbeitet er für den Familienbetrieb mit dem Lift, er müsste darauf achten, dass die Bügel richtig abgegeben werden, aber es fährt kaum jemand den Hang hoch, und so löst er Kreuzworträtsel oder schaut einfach aus seinem offenen Fenster, vielleicht meditiert auch er. Es ist wirklich eine heile Welt.
Und so fragt Bruno plötzlich in die Stille: «Dürfen wir das?». Luca weiss, was er sagen will.
Dürfen wir das? Einfach geniessen, diese heile und schöne Bergwelt, weit weg von dem, was doch so nah ist, uns sogar von Musik ablenken lassen, die wir sonst nie hören würden, und dieses sanfte Geräusch vom Lift als Poesie empfinden? In dieser Welt, in der uns so grässliche andere Höllengeräusche am TV erstarren lassen? Mit diesen Bildern, die wir nicht mehr aus dem Kopf kriegen, von weinenden und verstörten Kindern und flehenden Müttern und Soldaten mit Gewehren in der Hand, jungen Männern, die vielleicht gar nicht wissen, warum sie im Krieg sind?
Einfach fliehen und alles vergessen?
Der Lift im Prättigau. |
Sie antworten nicht darauf, aber Luca nimmt jetzt doch sein Handy hervor, er sagt, vielleicht passe es genau in diesem Moment, hier oben, in der Einsamkeit, es sei ein Gedicht der deutschen Autorin Friederike Hempel, er habe es kürzlich gesehen und gleich kopiert, der «Russische Soldat» heisst es:
Du
russischer Soldat
was wird das letzte Bild sein
das du siehst?
Vielleicht
die schreckgeweiteten Augen
des ukrainischen Vaters
der dich anstarrt in Todesangst
um seine Kinder
ein junger Mann wie du
er könnte dein Freund sein
ihr würdet euch treffen am Abend
in sommerwarmen Städten
Auf ihn sollst du schießen
Befehl ist Befehl.
Du
russischer Soldat
was wird der letzte Ton sein
den du hörst?
Vielleicht
der Schmerzensschrei
eines Kindes oder
der zitternde Klang
eines Wiegenliedes
gesungen von der blassen Mutter
ihrem wimmernden Baby
das sie mit ihren Armen schützt
wie mit Flügeln
Auf sie sollst du schießen
Befehl ist Befehl.
Du
russischer Soldat
was wird das Letzte sein
das du fühlst?
Vielleicht
eine todeskalte Angst
vor dem eigenen Ende oder
den namenlosen Schmerz
dieser Nachbarn
die deine Feinde sein sollen
vielleicht sogar Scham -
oder fühlst du dich
am Ende ohnmächtig
ausgeliefert dieser Hölle?
Befehl ist Befehl.
Ja, Bruder,
aber Leben ist Leben
und Liebe ist Liebe
und Blut ist Blut.
Willst du das sehen?
Willst du das hören?
Willst du das fühlen?
Ganz am Ende
auch deines Lebens?
Steig aus deinem Panzer
verweigere den Befehl
Schau in die Augen des Vaters
hör den Gesang der Mutter
Du bist einer von ihnen
Wie kannst du schießen auf sie
Mensch unter Menschen
Trau nicht dem Befehl, Bruder.
Mache der Hölle ein Ende.
Leben ist Leben
«Espresso» mit Bruno und Luca war von 2014 bis 2016 eine Kolumne im Tages-Anzeiger.
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