Gress, 80, sagt, er sei 41

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Als er 60 wurde, sagte er, er fühle sich wie 40. Als er 72 wurde, sagte er immer noch, er fühle sich wie 40. An diesem Freitag wird er 80, und er sagt, und er lacht am Telefon, er sitzt zu Hause in seiner Wohnung in Strassburg, er fühle sich wie 41.

1941 ist sein Jahrgang, der 17. Dezember sein Geburtstag. «Gut, die Leute schauen etwas komisch, wenn ich sage, ich sei 41, bei 45 würden sie es aber glauben.»

Gilbert Gress ist immer noch Fussballtrainer, seit vielen Jahren ein Trainer ohne Mannschaft, aber er würde sich auch noch als Trainer fühlen, sollte er einmal 100 sein, denn Trainer könne man nicht einfach werden, sondern man sei dafür geboren.

Er war zwölf, als er in Schluthfeld, einem Quartier in Strassburg-Neudorf, wo er immer noch wohnt, mit anderen Kindern auf Äckern spielte, die Mannschaften zusammenstellte, allen einen Zettel in die Hand gab, auf dem er aufgeschrieben hatte, wie sie spielen müssen und auf welcher Position und mit welcher Aufgabe.
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Gilbert Gress ist der, von dem ganz viele immer wieder ein Wort hörten: «Unmöööööööglich», und alle waren immer wieder «unmöööööööglich», Spieler, Schiedsrichter, Trainer, Funktionäre, vor allem Präsidenten, der Modus, natürlich Journalisten, alles auf der Welt. Oder auch immer wieder: «C’est nul.» Manches und manche waren immer wieder schrecklich.
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Gilbert Gress ist der, der fluchtartig das Stadion Maladière in Neuenburg verlassen hatte, es war ein Mittwoch Ende Mai 1988 gewesen, Xamax eben Meister geworden, zum zweiten Mal nacheinander. «Uli, Uli!» schrie das Publikum, wegen Stielike, und «Gilbert, Gilbert!», wegen Facchinetti, dem Präsidenten, und Gress, dem Trainer, doch der rannte weg, alleine hinaus in die dunkle Nacht, nach Hause in St-Blaise zu seiner Frau und Freunden, die dort warteten. 

Als Stielike den Meisterpokal überreicht bekommt, sitzt Gress vor dem TV-Bildschirm. Es war sein Protest. Mit einem Teil der Medien hatte er wieder einmal Krach, und der Modus, sein Dauerthema, die zu vielen Spiele sei eine Katastrophe, der Schweizer Fussball stehe Kopf, sagte er. Ganz Neuenburg lag sich in den Armen, und er jammerte zu Hause.
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Gilbert Gress ist der, der zum dritten Mal als Trainer zu Racing Strasbourg zurückgekommen war. Es war an einem Freitag im Sommer 2009, längst nach Mitternacht, er sass mit Freunden an einem Tisch im Restaurant Le Pont des Vosges, eine Mousse au Chocolat vor sich, und plötzlich sagte er: «Wie komme ich da nur wieder raus?», und seine Frau Béatrice sagte neben ihm: «Schilles, ich habe immer gesagt, du darfst das nie machen.»

30 Jahre zuvor war er mit Strasbourg zum ersten und bisher einzigen Mal in der Klubgeschichte französischer Meister geworden, jetzt hatten sie ihn wieder in der Not gerufen. Der «Engel von der Meinau», wie sie ihn schon früher als Spieler bejubelten, komme zurück, stand in den Zeitungen, Gress und Strassburg ist eine ewige Liebesgeschichte, eine Amour fou. 

Er verlor aber das erste Spiel 1:6, an diesem Freitagabend das zweite 1:2, und jetzt jammerte er im Restaurant über alles, über einige Spieler und die Klubpolitik, den Mehrheitsaktionär, und am meisten ärgerte ihn die Frage nach dem Alter, die er hören musste, Gress war damals 68. «Hören sie, hätte denn Picasso mit 60 aufhören sollen zu malen oder Aznavour zu singen?»

SonntagsZeitung, 9. August 2009: Gress jammert in Strassburg.

Die Chansonlegende Charles Aznavour, 85 war er damals, sang am gleichen Abend in der Nähe von Strassburg, er wurde bejubelt. Gress und Racing hatten sie im Stadion ausgepfiffen. Einige Tage später wurde er entlassen, es war ein Missverständnis gewesen, ein gegenseitiges.

Strasbourg ging später pleite und wurde in die 5. Liga zwangsrelegiert. «Wissen Sie, warum es dem Klub schlecht geht? Weil ich nicht mehr dabei bin», sagte er zu einer lokalen Zeitung.
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Gilbert Gress ist der mit dem Handy. Er war eben Schweizer Nationalcoach geworden, jemand rief an, sagte «Hallo Rolf». Er sei nicht der Rolf, antwortet Gress, es riefen immer wieder Leute an, die mit Rolf sprechen wollten, er kenne jetzt alle Freunde von Rolf, nur Freundinnen hätten nie angerufen. Der Schweizer Fussballverband hatte ihm das Handy seines Vorgängers Rolf Fringer gegeben.

Und wenig später, am Tag vor seinem ersten Länderspiel gegen England in Bern, wollte er seine Frau anrufen. Er hielt das Gerät an sein Ohr - da sagte ihm sein Assistent, er hätte die TV-Fernbedienung in der Hand. Als er nachher seine Frau erreichte, klagte diese sogleich, sie könne die Fernbedienung in der Wohnung nicht finden. Dafür lag das Handy, das damals noch Natel hiess, und Gress für eine unnötige Erfindung hielt, bei ihr auf dem Tisch.

Einen Computer oder eine E-Mail-Adresse hat er bis heute nicht, an seinem Handy meldet sich niemand mehr, der (oder die) einen Rolf sucht.
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Gilbert Gress ist der, der 40 Jahre lang, sagt er, nur zwei Mannschaften trainiert habe, Xamax und Strasbourg. Was nicht ganz stimmt, Brügge, Servette, der FCZ, Graz, Sion und Aarau waren es zwischendurch auch, allerdings immer nur für kurze Zeit, in Neuenburg war er 14 Jahre, im Elsass 7.

«Aber ich habe viel zu früh aufgehört», das sei ein Fehler. 68 war er damals bei Racing. Und er erzählt, wem er alles abgesagt habe: Bayern, Stuttgart, Dortmund, vielen.

1998 Titelgeschichte im «Magazin».

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Gilbert Gress ist der, der an einem Abend in einem Hotel sass, 1983 war es, als sein Präsident Faccinetti auf einen Mann am Nebentisch zeigte: «Der kommt zu uns.» Gress schaute ungläubig: «Dieser alte Mann». Und als der alte Mann aufstand und ziemlich hinkte, schüttelte Gress den Kopf, «unmöööööööglich, der kann ja nicht mehr richtig laufen.»

Der alte Mann war Don Givens, 32-jährig damals, mit 56 Länderspielen für Irland. Beim Training, in dem Gress die Spieler immer lange, sehr lange rund um den Platz laufen liess, brauchte er 20 Minuten mehr als die anderen. Aber Givens wurde fit, zum Liebling in Neuenburg und für Gress zu einem der wichtigsten Spieler. Als dessen Hüftarthrose später immer schlimmer wurde und er vor, während und nach einem Spiel gespritzt werden musste, bat Gress jeweils: «Don, ich brauche Sie noch, bitte spielen Sie noch weiter mit uns, auch hinkend.» Wille und Intelligenz, das müsse ein Spieler haben, sagt Gress, kein anderer Spieler als Don Givens habe dies mehr verkörpert.
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Gilbert Gress ist der, der für Frankreich in den Krieg musste, 20-jährig war er, zweimal wurde er als Rekrut für fünf Monate nach Algerien einberufen, er stand in der Wüste von Beni Chaoua Wache mit einem Maschinengewehr, schiessen musste er nie. Aber miterleben, wie zwei Kameraden starben.
Als Rekrut 1961 im Krieg in Algerien.

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Gilbert Gress ist der, der auch heute noch kaum ein Fussballspiel am Fernsehen verpasst. Und diese Spiele immer mit den Augen des Trainers ansieht. Seine Frau, mit der er 57 Jahre verheiratet ist, ruft jeweils besorgt «Schilles, reg dich nicht auf», und er regt sich dann noch mehr auf, über die Taktik, über Fehler, dumme Fouls, über Pfiffe oder nicht-Pfiffe der Schiedsrichter, den VAR, über alles. Und sagt, viele wollen aus dem Fussball eine Wissenschaft machen, dabei ist er doch so einfach.

Er hat eine Autobiografie herausgegeben. Der Titel heisst: «Mein Leben für den Fussball.» Und in einigen Monaten erscheint nochmals ein Buch über ihn. Ein Professor aus Strassburg hat Texte geschrieben, dazu soll es viele Bilder aus seinem Leben geben, sie werden alle gemalt werden.
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Gilbert Gress ist der, der fragt: «Findet es diesmal wieder statt?» Wir sprachen über das Zürcher Sechseläuten, zu dem er schon dreimal eingeladen war. Stolz sagt er, er habe mehr Blumen bekommen als Maurer - «Uli, kennen Sie ihn?» -, und er würde sofort wieder kommen. Er sagte einmal in einem Tagi-Interview auf die Frage, ob er wisse, wie man dieser Figur sagt, die auf dem Scheiterhaufen verbrennt wird: «Er ist, wie heisst er wieder. Ich habe es hier aufgeschrieben ... Ja, das ist der Bück, Bück, oder?»

Gilbert Gress Ehrengast beim Sechseläuten.

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Gilbert Gress ist der, der ... eine andere wunderbare Geschichte mit ihm. In einer schwülen Sommernacht, Xamax hatte eben gegen Real Madrid gespielt (und gewonnen), morgens um zwei war es und Gress zusammen mit Freunden in seiner Wohnung, er trug kurze Hosen. «Der Heinz», er meinte Heinz Hermann, «das ist doch unmööööööööglich. Vor einem Training, da bückt er sich, hält fast minutenlang sein rechtes Bein, dann sein linkes, verrenkt die Arme hinter dem Kopf, auf alle Seiten und macht diese unmööööööglichen Dehnungen, einfach unmöööööööglich - und ich?»

Gress versuchte sich zu bücken, hält so gut es geht seine Arme und Hände vor seinen Körper, er kommt mit ihnen kaum auf Kniehöhe. «Nie bin ich weiter runtergekommen, auch früher nicht, und ich war doch auch Meister mit Marseille und Strasbourg, habe drei Länderspiele gemacht.»
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Gilbert Gress ist der, der sagt, vielleicht sei es doch etwas zu spät um nochmals eine Mannschaft zu trainieren, «aber, wer weiss, wenn ein Anruf kommt.» Er lacht dabei, seine Frau im Hintergrund auch. Sie weiss: Er würde nicht nein sagen.

Er ist ja erst 41.

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