Stammtisch und Stürm


Es ist wie eine «Tagesschau» an einem Morgen im Bistro im Seefeld, an einem kleinen Tisch, Espressi werden serviert. Zuerst zum Wetter: «Ein so schöner Tag, es schneit», sagt der, der eben eingetreten ist, zwei seiner Kollegen, über 60 alle, sitzen schon etwas länger da.

Schön sei es, sagen die zwei, alles sei schön, und sie reden jetzt über den Sonntag. 62 Prozent, das sei ein deutliches Signal, zum Glück, und dann reden sie, ohne Übergang, vom FCZ und auch der habe endlich das Glück, das ihm gefehlt habe und wer wisse, wohin das noch führen könne; dann fragt einer, ob sie es auch gesehen hätten, wahnsinnig sei es gewesen, und er redet von Adele und ihrem Konzert in Los Angeles, das am Fernsehen zu sehen war, und dann über Tempo 30, das sei schon gut, aber überall könnten sie es in Zürich doch nicht einführen, alle nicken.

Und dann fragt der, der zuletzt gekommen war, ob sie es auch gehört hätten, dieser neue Virus aus Südafrika, und wieder nicken sie, und einer sagt, er verbreite sich offenbar viel rascher und das sei gefährlich, und jetzt müssten doch endlich alle einsehen, dass sie sich impfen sollten, aber, sagt ein anderer, der neue Virus sei doch nicht so schlimm, wie man zuerst gemeint hätte, um dann aber sogleich anzufügen: Wir wissen nichts, und eigentlich sei es seit Beginn dieser Pandemie so, wir hätten doch immer gewusst, dass wir nichts genau wissen würden.

So reden sie, eine Viertelstunde lang, dann steht einer wieder auf, es sei doch so schön draussen, dieser Schnee, der immer noch falle, man fühle sich gut und irgendwie auch frei in dieser Stimmung. Und ich nehme wieder meine Zeitung, ich war zuvor auf Seite 31 der NZZ, lese den Titel «Stürm türmt - und wir folgen ihm in die Unfreiheit», und der Autor fragt sich, was uns eigentlich so fasziniere, an diesen notorischen Ausbrechern der Kriminalgeschichte und eben an Walter Stürm, dem achtmal und immer wieder spektakulär die Flucht gelang.

Es muss, lese ich, unsere Sehnsucht dahinterstecken, unsere eigenen Ketten zu sprengen, aus unseren ganz individuellen Käfigen des Alltags zu türmen, die sich auch oder gerade in Zeiten von Corona zu vermehren scheinen.

Ein Film üben das Leben von Walter Stürm.

Ich suche auf dem Handy das Kinoprogramm, will den Film sehen, und natürlich kommt darin die Szene vor, die immer mit ihm verbunden bleibt. Der Zettel, den er in der Zelle im Gefängnis in Regensdorf hinterlassen hatte, vier Tage vor Karfreitag 1981, als ihm wieder eine Flucht gelungen war: «Bin beim Ostereiersuchen, Stürm».

Und beim Verlassen des Kino Corso am Bellevue, draussen dunkelt es, und die Lichter leuchten drüben beim Weihnachtsdorf, und die Leute halten ihr Handy in der Hand und zeigen ihren Code, denke ich: Was wird sein an Ostern, wie frei oder unfrei werden wir uns dann fühlen? Wissen wir, was wir immer wieder glauben zu wissen und doch nicht wissen? Oder denken wir weiter, in einem Käfig leben zu müssen?

Irgendwann im Film heisst es: Freiheit könne man nicht schenken.

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Kuno Lauener und der Fotograf

Besuch bei Mamma

Hoarau – bitte nicht, YB!

Diego (8): «Yanick, Yanick»

Abschied nehmen

Das Flick-Werk

Chaos bei GC

Weite Reisen

Genug ist genug

Chloote!!!