Losstürmen

 

Weil draussen der erste Schnee fällt, wenigstens halb Schnee, halb Regen, aber kalt ist es, und die Leute, die aufs Tram warten, sind verhüllt und das nicht nur mit Masken, aber doch scheinen alle irgendwie hektisch und gehetzt, und in den Zeitungen, die im Bistro auf dem Tisch liegen und in den Mails auf dem Handy, hat es diese Hinweise zum Schwarzen Freitag mit den verlockenden Angeboten. 
Und dann, plötzlich, rennt vor dem Fenster des Lokals einer vorbei in kurzen Hosen und in einem grellen Dress, er rennt durchs Seefeld, eine Mütze auf dem Kopf, auch grell, schwarze Handschuhe, für ein Foto hat es leider nicht gereicht, er war zu schnell – doch eine alte Kolumne kommt mir in den Sinn, vor vielen Jahren geschrieben, auch an einem Tag wie diesen, am Ende des Jahres war es. «Espresso» hiess die Kolumne damals. Der Titel war so:

Sturmlauf in den Besenwagen


Bruno hat kürzlich mit Arno Camenisch gemailt. Er kennt den Bündner Schriftsteller, seit er einige Lesungen von ihm besucht hat, sie sind immer wie ein kleines Schauspiel, amüsant und unterhaltend, mehr Theater als Lesung. Und Camenisch schrieb ihm, er arbeite jeweils am Ersten Ersten des Jahres wie ein Akkordarbeiter, und dann fühle er sich gut und wie einer, der in der Tour de France alleine wegstrampelt, sofort einen grossen Vorsprung herausholt und uneinholbar vorneweg scheint. Aber am Ende holt ihn das Feld eben doch immer wieder ein.

Und so fühle er sich auch, sagt Bruno an diesem Morgen in Stammlokal, in dem sie sich immer wieder zu ihrem Espresso treffen, er selber sei eigentlich längst kraftlos und erschöpft, das Jahr war lang und anstrengend, und die vielen Leute in der Stadt würden seit Tagen auch alle spinnen, so hektisch tun, als würde die Welt demnächst untergehen, an Weihnachten, spätestens an Silvester, verrückt sei es und nicht zum Aushalten und nicht mal richtig Winter.

Und so bestellt Bruno nach vier Espressi einen Orzo, er sagt den Namen laut und genüsslich: «Caffè d'orzo
» – und die Frau an der Bar, sie ist eine Berlinerin, was man gut hört, wenn sie redet, und sie redet gerne, versteht nicht, und auch Luca fragt erstaunt: «Orzo?»


Bruno lacht, er lese momentan das Buch «Die strengen Frauen von Rosa Salva» von Matthias Zschokke, eine einzige und schöne Liebeserklärung an Venedig, und da gebe es eine Stelle, in der die Venezianer am Morgen nach vier Espressi als Nächstes immer einen Orzo bestellen, einen Gerstenkaffee gegen die Übersäuerung. Das sei stets ein Zeichen, dass man viele Freunde habe und somit eben lange in der Bar sitzen bleibe.

Bruno und Luca sind allein. Und reden über das, was war in den vergangenen Monaten, und Bruno kommt in den Sinn, wie Luca Anfang des Jahres an einem Morgen plötzlich mit einem leuchtenden Laufdress in ihrem Bistro im Seefeld erschien. Ein Outfit, wie er es bei seinem Freund noch nie gesehen hatte, als Architekt kleidet er sich sonst meistens ganz in Schwarz, nigelnagelneue Schuhe habe er getragen und pinke Socken, die hat Bruno immer noch vor Augen, stolz sei Luca gewesen, aber auch ziemlich verschwitzt, atemlos und mit einem viel zu hohen Puls.

Er, sonst kaum sportlich, trainiere jetzt für den Zürich Marathon, war seine Erklärung, Bruno hat damals nur gestaunt und das Übrige für sich gedacht. Und sehr bald war ihm dann aufgefallen, dass Luca nicht mehr von gelaufenen Kilometern und dem süchtig machenden Lauffeeling den See entlang auf der Seestrasse geschwärmt hat, sondern kein Wort mehr darüber verlor, und Bruno hat dazu keine Bemerkung gemacht, auch wenn es ihm manchmal zuvorderst auf der Zunge lag. Man ist in solchen Momenten nachsichtig mit einem Freund, vielleicht war es ja bei Luca nur eine kurze Lebens- oder Liebes- oder-was-auch-immer-für-eine-Krise gewesen, und inzwischen ist alles wieder gut.

Und deshalb, das sagt jetzt Bruno, sei die Idee des Bündner Autors Camenisch vielleicht doch nicht so nachahmenswert, am Ersten Ersten wie ein Verrückter loszulegen und ins neue Jahr zu stürmen. Sonst landet man irgendwann völlig entkräftet im Besenwagen. 
 

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