Liverpool in Kemptthal




Wäre es immer ein Bier gewesen, er wäre betrunken gewesen. Er liebt Bier. Aber er trank, wie er zumindest sagte, stets eine Apfelschorle. Und er trank viel. Immer, wenn ein Flugzeug über die Bühne flog, griff er zum Glas. Und es flogen viele Flugzeuge über die Bühne an diesem Abend. Alle paar Minuten. Auf dem Anflug nach Kloten. Er sah ihnen nach, und das Publikum sah auch immer zum Himmel. Flugzeuge waren ein Thema.

Es war ein Abend im Kemptthal, auf dem grossen Areal der ehemaligen Maggi-Fabrik, eingeklemmt zwischen Bahnlinie, die S7 hält hier, Kantonsstrasse und Autobahn, früher roch es da nach Suppe und Bouillon, heute ist es ein geschichtsreiches Industriegelände, ein spezielles, für Start-Ups und auch für Unterhaltung und Kultur, es heisst «The Valley», vieles ist denkmalgeschützt.

An diesem wunderbaren Abend war Liverpool in Kemptthal. Das rote Signet des Fussballclubs hing auf der Bühne und eine England-Fahne, rot beleuchtet war auch das Gebäude dahinter, es war ein Abend mit Campino, dem Sänger der Punkband Die Toten Hosen.

Und der Ort, die vielen Backsteingebäude, und auch der verhangene graue Himmel, hätten nicht besser passen können. Und eben die Flugzeuge, die ständig darüber flogen. Campino sagte lachend, er verlange jetzt von seinem Management nur noch an solchen Orten auftreten zu können, mit einer Einflugschneise und Kerosin in der Luft, das beflügle, er genoss den Abend, das spürte man, vielleicht war auch nicht in jedem Glas nur eine Apfelschorle.

Das Lied gegen den Schmerz - morgens um sechs zusammen mit Jürgen Klopp, mit viel Alkohol im Blut

Und Campino, der eigentlich Andreas Frege heisst, sang nicht nur, zuerst in Englisch, dann Deutsch, und der Hosen-Gitarrist Kuddel begleitete ihn dazu, sondern er las auch aus seinem autobiografischen Buch «Hope Street. Wie ich einmal englischer Meister wurde», benannt nach einer Strasse in Liverpool. Er erzählte über seine englisch-deutsche Familie, seine Beziehung zu seinen Eltern, der Vater Richter, die Mutter Lehrerin, seiner Jugend als fünftes von sechs Kindern, wie er in jungen Jahren Fussball-Fan wurde, mit einer glühenden Liebe zu Liverpool, Kevin Keegan war sein Held.

Es sind nachdenkliche und immer wieder lustige Geschichten, er las auch diese vor, «Henkelpott» heisst das Kapitel, in Kiew hatte Liverpool den Final der Champions League verloren (gegen Real), ein Jahr später in Madrid (gegen Tottenham) gewonnen:

Nach der Niederlage (2018, in Kiew) waren wir in jener traurigen Nacht noch nach Liverpool zurückgeflogen. Niemand konnte schlafen gehen, wir tranken in kleiner Runde bei Jürgen und Ulla (Liverpool-Trainer Jürgen Klopp und seine Frau). Morgens um sechs, mit reichlich Alkohol im Blut, sangen wir ein Lied gegen den Schmerz. Co-Trainer Pete hatte schon den ganzen Abend den Ohrwurm eines französischen Schlagers im Kopf gehabt. Schnell waren ein paar Zeilen geschrieben, selten fiel mir das Texten so leicht. Wir hatten eine englische und eine deutsche Version. Beide handelten von der Prophezeiung, den Wettbewerb im nächsten Jahr zu gewinnen. Was man nach einer Niederlage so sagt. Dass es dann tatsächlich eintreffen würde, hätte in jener Nacht wohl keiner zu hoffen gewagt.

We saw the European Cup/ Madrid had all the fucking luck/ We swear we'll keep on being cool/ We'll bring it back to Liverpool

Die deutsche geht so:

Wir haben den Henkelpott gesehen/ Er war so wunder-, wunderschön/ Er musste leider nach Madrid/ Wir holen ihn nächstes Jahr zurück.

Campino sang in Kemptthal, was er 2018 mit viel Alkohol im Blut und viel Schmerz morgens um sechs mit Jürgen Klopp gedichtet hatte. (Video Fredy Wettstein)

Dennis hatte alles auf seinem Telefon gefilmt, ich schickte die Aufnahme nach Düsseldorf ins Büro, sie sollte über die Tote-Hosen-Kanale rausgeschickt werden, alle fanden das lustig. Um halb acht morgens rief Patrick, der Geschäftsführer unserer Plattenfirma, zurück. Seine Stimme klang besorgt.

«Campi, wollt ihr das wirklich machen? Ihr seid doch alle nicht mehr nüchtern.»

«Mensch, Patrick, mach dich locker. Ist doch ein gutes Lied!»

«Nee, Campi, echt nicht.»

Ich drehte mich zu Jürgen um. «Die im Büro finden das Lied nicht gut! Die raten uns ernsthaft davon ab, das rauszuhauen.»

«Aber ‘Eisgekühlter Bommerlunder’ geht, oder wie? Ich bin für machen.»

Eine Viertelstunde später checkte ich den Hosen-Instagram-Account: nichts. Anruf bei Patrick: «Was ist los? Wo ist das Ding?»

«Was los ist? Ihr seid betrunken, seht scheisse aus, und ihr werdet das nie wieder gelöscht kriegen! Das ist los.»

Jetzt war Autorität gefragt. Ich bemühte mich, nicht zu lallen. «Patrick. Ich bin jung, ich sehe super aus, und ich kann singen. Lad das Ding hoch!» Mit diesen Worten fiel ich rückwärts auf Jürgens Wohnzimmersofa, wo ich sogleich friedlich einschlief.

Als ich drei Stunden später gegen Mittag aufwachte, hatte ich ein mulmiges Gefühl. Ich guckte auf mein Handy. Lauter Smileys. Unser Ständchen war schon Hunderttausende Male geklickt worden. Erstaunlicherweise kein Shitstorm. Im Gegenteil, alle englischen Zeitungen berichteten über «Klopp staying upbeat» nach der Niederlage zusammen mit seinem Freund «Campino, the lead singer of German punk rock band Die Toten Hosen».

Als wir den Pokal dann tatsächlich, wie in dem Lied prophezeit, ein Jahr später in Madrid (2:0 gegen Tottenham) gewannen, mussten wir natürlich einen neuen Text finden. Dasselbe Komponisten-Trio machte sich also in der Siegesnacht wieder an die Arbeit:

We're sending greetings from Madrid/ Tonight we made it number six/ We brought it back to Liverpool/ 'Cause we promised we would do

In dieser Nacht war Madrid die schönste Stadt der Welt.


«Tage wie diese» am Abend in Kemptthal. (Video Fredy Wettstein)


Klar fehlte am Abend in Kemptthal im «The Valley» der Stadionsong «Tage wie diese» nicht, alle im Publikum standen dazu, schwenkten Arme und wünschten sich die Unendlichkeit, und Campino sang nachher auch noch, es musste ja sein, die Vereinshymne von Liverpool, «You’ll never walk alone», und wenig hätte gefehlt, und es hätte an der Kempt, dem Nebenfluss der Töss, zu regnen begonnen, «Walk in through the rain» heisst es im Lied.

Zuletzt wurde es etwas bierselig - trotz Apfelschorle oder vielleicht war es jetzt auch ein Bier -, Campino grölte «Eisgekühlter Bommerlunder», und er sagte, am andern Tag würde wohl wieder in den Zeitungen stehen, es sei nur ums Saufen gegangen. Er lachte dazu, alle lachten, wollten nicht, dass das Konzert mit der Lesung oder das Geschichtenerzählen mit Musik fertig ist.

Flugzeuge flogen jetzt keine mehr über die Köpfe hinweg, es war spät geworden in Kemptthal, die S7 wartete.


«Hope Street. Wie ich einmal englischer Meister wurde.» Von Campino. - Erschienen im Oktober 2020 im Piper-Verlag.

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Kuno Lauener und der Fotograf

Besuch bei Mamma

Hoarau – bitte nicht, YB!

Diego (8): «Yanick, Yanick»

Abschied nehmen

Das Flick-Werk

Chaos bei GC

Weite Reisen

Genug ist genug

Chloote!!!