«Hai, hai» in Tokio (I)



Schlafen im Kapselhotel

An diesem Freitag werden in Tokio die Olympischen Sommerspiele eröffnet. Es sind besondere Spiele, Spiele in einer Blase. Ohne Zuschauer, Geisterspiele, mit Sportlerinnen und Sportlern, die täglich getestet werden und frühestens fünf Tage vor ihrem Wettkampf anreisen dürfen und dann nachher gleich wieder abreisen müssen. Mit Journalisten, die ständig überwacht werden und sich nur an bestimmten Orten bewegen können und, wenn sie früher anreisten, zuerst 14 Tage in einem zugewiesenen Hotel in einem Mini-Zimmer in Quarantäne mussten. Spiele möglichst ohne Kontakte. Und es kommen Erinnerungen auf, auch an Japan, 2002, die Fussball-WM, wir reisten durchs Land, sassen stundenlang in der U-Bahn, im ultraschnellen Shinkansen, überall im Taxi, übernachteten, wo wir wollten, auch einmal in einer Kapsel – und einmal hatten wir Angst.


Der Letzte im Bus. Der Mann in dunkler Uniform nickt freundlich, alle nicken hier immer freundlich und sagen «hai», ja, und sie sagen auch «hai», wenn sie «nein» meinen, ein «nein» gibt es nicht. Der Mann in dunkler Uniform sollte den Fremden zurück vom Stadion ins Hotel führen, es ist weit nach Mitternacht, und der Fremde ist der Letzte, der noch gearbeitet hat, es war schon gestern und vorgestern so, und es ist wieder der gleiche Chauffeur.

Der Fremde denkt, er kenne ihn vielleicht und nennt den Hotelnamen, und der Chauffeur sagt freundlich «hai» und fährt los, und es ist keineswegs die direkte Route, er fährt zu allen möglichen Hotels, bei denen niemand aus- oder einsteigt, der Fremde ist ja auch der Einzige im Bus. Und er fährt auch zum Bahnhof in Beppo ausserhalb von Oita, und weil es offenbar auf seinem Plan steht, wartet er hier 15 Minuten, fährt los, obwohl der letzte Zug längst abgefahren ist, hält wieder oft, der Fremde wiederholt nochmals den Namen seines Hotels, und der Chauffeur sagt «hai» und lächelt – und lächelt noch etwas freundlicher, als er nach 90 Minuten im Hotel «Sun Valley Annex» anhält.

In zehn Minuten hätte er vom Stadion her auch hier sein können.

Airport im Hafen. «Hai, hai» sagt auch der Mann im weissen Hemd und weissen Handschuhen in seinem Taxi, in dem auch die Sitze mit weissem Tuch überdeckt sind. Der Fremde hat ihm «Airport» gesagt, er fliegt in zwei Stunden von Oita zurück nach Tokio, aber der Weg zum Flughafen kommt dem Fremden etwas gar fremd vor.

Er führt nicht ins Landesinnere, sondern zum Meer, der Pazifische Ozean kommt immer näher, und plötzlich stehen sie am Hafen, der Taxichauffeur lächelt und öffnet die Tür und will nicht verstehen, weshalb der Fremde nicht aussteigen will. «Airport, Airport» sagt dieser, «hai, hai» der Chauffeur, beide reden und verstehen sich nicht, und dann nimmt der Fremde sein Flugticket aus der Tasche, zeigt es, und der Mann mit den weissen Handschuhen sagt wieder «hai, hai» und nickt und lächelt. Und fährt wieder los.

Das Beben im Hotel. Der Stuhl, der Tisch, dann das ganze Hotel, wie ein Baum im Wind, so schien es. Zuerst waren dem Fremden im 22. Stock, Zimmer 2219 des Meridien Pacific in Tokio Zweifel gekommen – immer noch der Jetlag, ein morgendlicher Traum, weil die Nacht kurz war?

Nein, es rüttelte. Es rüttelte stark, die Erde bebte. Sofort raus, in den Gang, andere standen auch dort, sehr verängstigt. Wo ist der Notausgang? Hören wir Sirenen? Bebt es weiter?

Später ein Telefonanruf zum Korrespondenten des «Tages-Anzeigers», der damals noch mit eigenen Journalisten in der ganzen Welt vertreten war. Er lachte nur. Das sei ein «Dreier» gewesen, harmlos, komme hier immer wieder vor. Aber eine europäische Agentur habe von einem schweren Erdbeben mit der Stärke 5,2 auf der Richterskala berichtet? Das sei sicher die AFP, die würden immer von einem schweren Erdbeben reden, wenn es drei oder etwas mehr sei.

«Ronaldo please». Es wird geschubst, geflucht und gefilmt und fast gestritten, die Journalisten, über hundert, strecken aufgeregt ihre Diktiergeräte oder einfach das Handy über den Zaun, einige berichten offenbar live, sie reden ständig, schreien wie wild, und entlang der Abschrankung schlendern die brasilianischen Fussballspieler vorbei. Sie trainieren in einem kleinen Stadion mit einem Wellblechdach ausserhalb von Shizuoka, die Medien aus der ganzen Welt sind gekommen, «Ronaldo, please in English!» schreit einer, der brasilianische Medienchef winkt ab, in dieser Zone dürfen nur Fragen auf Portugiesisch gestellt werden. «Ronaldo, wie fühlen Sie sich vor dem Spiel gegen England?» will einer wissen, «muito feliz», sagte dieser, der Dolmetscher sagt, er komme später vorbei, es zu übersetzen, und der japanische Journalist fragt den BBC-Mann, was dieser gesagt habe und schreibt es glücklich in sein Notizbuch. Es ist ein Riesentheater.

Oder ein Besuch im Hotel der Fussballer von Senegal, die 2002 in den Viertelfinal kamen. Alle waren da, ganze Familien, Frauen, Freundinnen, Kinder, Verwandte, es wird gesungen und gefestet und gefeiert, bis tief in die Nacht, afrikanische Lebensfreude pur, und niemand kontrollierte, alle waren im Hotel willkommen.

Diesmal, 2021, während den Pandemie-Spielen, die «Tokio 2020» heissen, wird kein Journalist einen Sportler persönlich treffen können, fast alles findet per Video statt. Er kann, wenn er nicht vorher 14 Tage in Quarantäne war, kein öffentliches Verkehrsmittel benutzen, in kein Restaurant gehen, muss sich immer wieder testen lassen - und fast überall Maske tragen. Es gibt Gutscheine für Olympiabusse und -Taxi, manche muss man zwei Tage vorher bestellen, etwas zum Essen einkaufen darf man täglich für 15 Minuten, in einem bestimmten Laden in der Nähe des Hotels. Alles wird überwacht. «Ab Samstag wird's anders, jetzt alles noch gemächlich» berichtet meine frühere Tagi-Kollegin Monica Schneider aus Tokio. 

Kapsel voll. Wir, der Fremde und der Korrespondent in Tokio, wollten es ausprobieren, eine Nacht in einem dieser besonderen Hotels. In einer Kapsel, wie ein Schliessfach, 80 Zentimeter hoch, 80 Zentimeter breit und 2 Meter lang, drei Kapseln sind übereinander, etwa 40 nebeneinander angeordnet, alle sehen gleich aus. Jeder bekommt eine Wegwerfzahnbürste, einen Kamm, Pantoffeln und ein Nachthemd, blau ist es, die Schuhe sind beim Empfang auszuziehen, vorne an der Kapsel hat es einen Rolladen aus Plastik. In den siebziger Jahren wurden diese Hotels erstmals gebaut, sie sollten Geschäftsleuten dienen, die nach der Arbeit die Trinkfreuden zu sehr genossen haben und auch vielleicht den Heimweg nicht mehr finden. Inzwischen gibt es auch spezielle Etagen für Frauen.

Wir gingen hin, im Ausgehviertel Shibuya in Tokio, und der Mann am Empfang sagte zuerst nichts, vielleicht sagte er auch «hai», doch dann sagte er «ippai», man spürte, dass es ihm leid tat, er nickte nicht, bewegte seinen Kopf aber auch nicht. «Ippai» heisst, wie mein Kollege, der japanisch versteht, übersetzt: voll.

Wir sahen vom Empfang aus viele, die wankten in ihren blauen Pyjamas mit kurzen Hosen ziemlich schief zu ihren Kapseln.

Ein Journalist der «FAZ», der nach Tokio gereist ist, schreibt in diesen Tagen, wie er im Flughafen angekommen ist und eine Olympia-Angestellte in der Halle nach einer von vielen Kontrollen und nach sechs Stunden Warten und Herumstehen all die schönen Dinge beschreibt, die es in der japanischen Hauptstadt zu besuchen gäbe. Dann aber sagt: «Sorry, no sightseeing.» Und dann aber anzufügen: «Wir freuen uns trotzdem, dass Sie da sind.»
In der Blase.

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