Zeit und Zeiten


Rot oder grün, schlecht oder gut?
 
Kürzlich wieder, während der Übertragung eines Skirennens, es war ein Slalom, vom TV-Kommentator gehört: «Ein brillanter Auftritt des Schweizers. Was die Zeit wert ist, werden wir später sehen.» Rot oder grün leuchtet am Bildschirm auf, erst jetzt wissen wir, wie die Leistung einzuschätzen ist – rot schlecht, grün stark. Ich habe zu Zeit und Zeiten und auch Zeitlupe, die vieles aufklärt, zuweilen auch etwas zu viel der Wahrheit, früher einmal zwei Texte geschrieben.


Rot, grün

Sie stehen am Start,
und wir schauen hin.
Und es ist WM,
und wir schauen 
gespannt hin.

Wie wir es früher taten,
und heimgerannt sind 
von der Schule.

Wir sehen eine rote Zahl
und denken: oh, schlecht.
Wir sehen eine grüne Zahl
und denken: oh, gut.

Sie fahren schnell,
denken wir, sehen wir, 
und glauben es,
die Zeit sagt es. Im Ziel.

Wir konzentrieren uns,
nur auf die Zeit,
rot oder grün. 

Sie fahren schnell,
und wir wissen nicht warum. 
Jubeln oder schnöden.

Zeitlos.

(Erschienen am 14.2.2017 im «Tages-Anzeiger»)



Zeitlupe

Diesen Text schreibe ich in einem Moment, in dem sich mein Leben in Zeitlupe abspielt. Ein kleines bisschen wenigstens. Eine Achillessehne ist gerissen; statt zu laufen, hinke ich, mit zwei Stöcken. Die Welt dreht sich verlangsamt. Alles braucht Zeit, mehr Zeit. Und weil man gezwungen ist, das Leben durch die Lupe zu betrachten, in jedem Detail und darum verlangsamt, sieht man manches anders, vielleicht besser, einiges sicher etwas deutlicher. Man blickt genauer hin, verweilt, weil man verweilen muss, gar nicht anders kann. 

Im Sport ist die Zeitlupe Teil des Spektakels. Dank ihr können wir genauer hinsehen, um nochmals zu geniessen. Auch um etwas zu verstehen. Oder um die Wahrheit zu finden. Und um vielleicht einzusehen, dass die Wahrheit doch immer wieder subjektiv ist. Und dass manchmal jeder eine andere Wahrheit sieht.

Die Zeitlupe zeigt uns den Skirennfahrer. Seinen Kampf gegen die eisige Piste. Die Skis sind wie eine Feder, die aufprallt, wieder wegspickt. Es sieht so leicht aus, verlangsamt, aber wir spüren die enormen Kräfte, die wirken, besonders, wenn er oder sie einmal stürzt, es wieder und wieder gezeigt wird und wir aufschreien vor Entsetzen.

Bei Federer eröffnet sich uns erst in Zeitlupe die ganze Poesie seiner Bewegungen. Und auch beim dritten Mal in der Wiederholung staunen wir nur, weil er mit seinem Racket Dinge macht, die nicht nur unmöglich scheinen, sondern einfach unglaublich schön sind. Die Zeitlupe, erst die Zeitlupe verzaubern sie vollends und wir wollen es immer und immer wieder sehen, weil wir es kaum glauben können. Es sind Momente von virtuoser Artistik, von kinetischen Kunstwerken, schrieb mal einer.

Im Fussball kann es auch solche Momente geben, ein Dribbling von Messi, die Pirouetten einst von Zidane, aber im Fussball heute dient die Zeitlupe vor allem der Aufklärung. Früher war ein Pfiff des Schiedsrichters ein Pfiff, ob falsch oder richtig, er zählte – heute sitzen irgendwo in einem Raum weit weg vom Stadion Assistenten vor Bildschirmen, mit dem Schiedsrichter per Funk verbunden.

Auch wir schauen uns dann immer wieder die Bilder an, in Super-Super-Slow-Slow-Motion, und merken plötzlich, dass wir uns geirrt haben, dass das, was wir dachten und von dem wir so überzeugt waren, nicht der Wahrheit entspricht. Der Fussball, bei dem die Ungerechtigkeit ein Teil des Spiels war und der auch davon lebte, der uns immer wieder diskutieren und streiten liess, wird durch den Videobeweis etwas gerechter. 

Aber auch etwas komplizierter. Selbst die Zeitlupe, je nach Einstellung der Kamera, zeigt immer noch verschiedene Perspektiven. Sie entlarvt zwar, klärt aber auch nicht immer restlos auf. Sie kann verwirren. Manchmal wissen wir selbst jetzt nicht mehr, als wir vorher zu wissen glaubten.

Was ist die VARheit?

Die Welt ist nie gerecht, daran haben wir uns beinahe gewöhnt. Aber man wünschte, es gäbe in gewissen Momenten die Pflicht, sich etwas noch einmal ansehen zu müssen und zu überdenken, was wir vorher unbedacht gedacht haben.

Die Welt wäre oft besser. Der Fussball ist es mit der Zeitlupe nicht. Nur hin und wieder gerechter. Doch manchmal wollen wir die Wahrheit gar nicht wissen. Weil etwas fehlen würde, wenn alles nur schwarz oder weiss wäre. Das ist im Fussball so und auch im richtigen Leben.

(Erschienen 2018 im Kundenmagazin «Beyond» von Beyer Chronometrie AG)  



Das Zeit-Zitat

Zum Thema ein Satz aus dem Tagebuch des Schweizer Slalomfahrers Daniel Yule in der «Zeit» vom 28. Januar:

«Mit der Zeitmessung kannst du nicht diskutieren, das ist auch das Schöne an diesem Sport.» 



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