Trainer sein, eine Sucht

Erstes Spiel, erste Niederlage: Christian Gross bei Schalke 04


Warum tut er sich das an? Schalke 04! Seit fast einem Jahr sieglos! Letzter der Bundesliga! Mit vier Punkten! Warum nur, warum, Christian Gross? Er wollte das Leben geniessen, das Engadin, vieles, Konzerte, Theater. Er habe mit dem Trainerberuf abgeschlossen, sagte er vor Monaten. Eigentlich. Sagte er auch, er ist 66. Und ich dachte an eine Kolumne, die ich vor genau drei Jahren im «Tages-Anzeiger» geschrieben habe. Zu diesem Thema. «Der Sport, die Sucht» war der Titel.

Er ist über 60, inzwischen im Pensionsalter, aber nicht pensioniert, denn in seinem Job gibt es das nicht. Er ist Trainer. Trainer können 73 sein und plötzlich Hund und Haus über Nacht verlassen, weil sie in der Not gerufen werden (Jupp Heynckes), oder auch schon 80, wie jener, der in 19 Ländern war, in Mels im Sarganserland wohnt und jetzt die Nationalmannschaft von Afghanistan coacht (Otto Pfister). Gilbert Gress, er ist 77, versteht nicht, dass er keine Angebote mehr bekommt.

Trainer verlieren selten ihre Leidenschaft. Sie alle sind, mit ganz wenigen Ausnahmen, auch Gefeuerte, die aber immer hoffen, dass es in ihrem Leben nochmals eine nächste Station gibt, irgendwann, irgendwo.

Wir reden am Telefon, sein Name ist unwichtig, er möchte ihn lieber nicht hier lesen. Er geniesse sein Leben, sagt er. Und doch, ja, vielleicht, wenn sich die Gelegenheit böte, und lose Kontakte gebe es, dann würde es ihn reizen. Fehlt ihm etwas? Er ist an vielem interessiert, liest gerne, hat sich einst zum Bibliothekar ausbilden lassen, er reist herum, entdeckt Neues, hört Musik von Brassens und Piaf, liebt Filme von Almodovar. 

Eigentlich fehle ihm nichts, sagt er, oder doch, und es kommt schnell: ja, vielleicht. Er redet, und seine Stimme wird kräftiger, von den einzigartigen Emotionen, diesem wunderbaren Gefühl, eine Mannschaft zu coachen, diesen Momenten vor dem Spiel und nach dem Spiel, in der Kabine, dem Geruch von Gras. Er hat an verschiedenen Orten Profis trainiert, auch Titel gewonnen, er hat in Afrika auf staubigen Äckern Waisenkindern die Freude am Fussball vermittelt. Er sei, hat er mal geschrieben, bereit, mit seinen Ideen unterzugehen und mit Hoffnung zurückzukommen. Und jetzt vielleicht noch 20 Jahre zu leben und nichts zu machen – er könne sich das nicht vorstellen. 

Er hofft, vielleicht, noch einmal, irgendwo, fast alles kommt für ihn infrage. Eigentlich hat er angerufen, um nach einer Telefonnummer zu fragen. Man muss Kontakte pflegen, damit sich vielleicht eine Tür öffnet.

Am gleichen Abend ging ich in den Keller, die grosse Tasche, in der alles drin ist, was es zum Eishockeyspielen braucht, ist seit Jahren unbenutzt und ziemlich verstaubt, sie riecht entsprechend. Der Stock gehört eigentlich längst in ein Museum, der ruhmreiche Joe Thornton hat ihn einst verschenkt, als er den Streik in der NHL in Davos überbrückte. 

Wir spielten damals plauschhalber in einer Mannschaft, unbegabt fast alle, wild stürmend und manchmal fliegend, Dental Flyers der Name, die Zahnärzte für den Notfall waren also zur Stelle. Und jetzt diese Einladung, 1O Jahre nach dem letzten Spiel, für Samstagmorgen in Bülach, sehr früh. Die Vernunft hätte Nein sagen sollen, vieles ist inzwischen bei den Gelenken künstlich, und ein Schienbeinschoner fehlte in der Ausrüstung. Es ging gut, jetzt nicht eishockeytechnisch gesehen.

Würde ich Klavier spielen – es wäre wunderbar könnte ich es –, dann hätte ich den Wecker nie auf 5.15 Uhr gestellt, um mitten in dunkler Nacht in eine Halle zu fahren.

Der Sport kann unvernünftig machen. Und süchtig. Beim Trainer. Und im Alter.

Der Trainer damals wurde ein paar Wochen später Trainer der kosovarischen Nationalmannschaft. Und ist es immer noch. Mit einem Vertrag bis 2022. Es mache ihm Spass, sagt er; Trainer zu sein, sei wunderbar. Es ist Bernard Challandes, er wird in diesem Sommer 70. 

Eine Reaktion im Netz nach dem 0:3 von Schalke bei Hertha Berlin, dem ersten Spiel unter Christian Gross.



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