Er liest ihr vor


Er liest. Sie liest auch, sie sind um die 40. Sie sitzen in einem Café, es ist früher Morgen, draussen nicht mehr dunkel, aber grau. Er liest den ersten Bund der Zeitung, sie den zweiten. Er liest und sagt dann auch immer wieder etwas, er liest ihr vor, was er eben gelesen hat. Liest und kommentiert manchmal auch. Sie blickt anfänglich immer zu ihm auf, hört zu, nickt, schmunzelt, lächelt, ist ernsthaft, nimmt es offenbar auf, was er sagt.

Sie lesen weiter, er bestellt einen zweiten doppelten Espresso, er liest konzentriert und zwischendurch immer noch vor, aber ich denke nach einer gewissen Zeit: Hört sie ihm jetzt noch zu, nimmt sie noch auf, was er sagt? Aber ich denke auch: Schön, dass zwei an einem trüben Morgen in einem Café sitzen und lesen. Papier in der Hand, in einer Zeitung blättern und lesen, so wie früher überall, im Tram, im Zug, und in fast allen Cafés gab es noch Zeitungen, in einigen ganz viele, auch ausländische; und schön, dass sie einander vorlesen, er ihr, sie ihm nur einmal.

Irgendwann nimmt sie aber ihr Handy; er liest weiter, ist jetzt beim zweiten Bund, später beim dritten, seinem Mundwinkel kann man entnehmen, ob das Thema eher unterhaltsam oder sehr ernsthaft, vielleicht traurig ist. Er liest viel, es ist eine recht dicke Zeitung an diesem Samstag, sagt aber jetzt nichts mehr; sie hat nur noch ihr Handy vor ihren Augen, versinkt fast darin, scrollt und scrollt, stumm.

Sie reden nicht mehr miteinander. Irgendwann sagt er, komm, wir gehen. Sie legen die Masken an und stehen an. Die beiden Zeitungen bleiben auf dem Tisch liegen.




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