ich will begreifen

Einsam in der Anonymität.


Diesen Text habe ich zufällig in einer Schublade gefunden. Geschrieben hatte ich ihn vor mehr als 50 Jahren, ich war damals noch in der Schule. Später, 1971, wurde er in der «Zürichsee-Zeitung» abgedruckt. Ich war stolz, klar, es war mein erster grosser Text in einer Zeitung. Er erschien auf der «Seite der Jungen», damals gab es noch solche Seiten.

Wenn ich den Text heute nochmals lese, denke ich: Ich begreife auch heute noch oft vieles nicht – gerade in diesen schwierigen Zeiten.   


in
einem abbruchreifen, vor dem letzten weltkrieg erstellten haus, im vierten stockwerk links, wohnt ein alter mann. seine wohnung ist dunkel. die beiden einzigen fenster sind gegen den hinterhof gerichtet, die sonne scheint so das ganze Jahr nie in die wohnung. in der stadt ersticken die häuser das licht.

der mann ist einsam. viele alte leute sind einsam. er kennt niemanden. einige leute wissen, dass er in dieser wohnung wohnt, aber niemand kennt ihn. seit vielen jahren arbeitet der mann nicht mehr.

jeden tag um halb sieben uhr, im winter und im sommer, steht er auf. er ist viel im freien, macht lange spaziergänge, immer den gleichen weg, er kennt den weg, seinen weg, trotzdem geht er immer wieder den gleichen.

jeden tag reisst er von seinem kalender ein blatt ab. den kalender erhält er jedes jahr um die weihnachtszeit von seinem lebensmittelgeschäft. er geht das ganze jahr nur in diesen laden.

 

heute
zeigt das kalenderblatt einen samstag. der alte mann ist auf
seinem spaziergang beim bahnhof angelangt. auf der strasse hat es
ungewohnt viele leute, sie bilden kleine gruppen, stehen umher,
tragen spruchbänder, einige haben transparente, a1le rufen, schreien. die menge drängt sich immer dichter zusammen, passanten bleiben stehen. auch der alte mann bleibt stehen. er sieht die leute, aber versteht sie nicht.

am andern tag geht er wieder an der gleichen stelle vorbei. wieder
hat es leute hier. Auch heute tragen sie plakate, selbstgemachte, auf denen wörter und sätze geschrieben stehen, auch heute rufen und schreien sie. plötzlich sieht der mann polizisten, immer mehr polizisten, sie haben knüppel in den Händen, sie halten einige
menschen fest, vor allem langhaarige, reissen sie an den kleidern, schleppen sie fort. der alte mann begreift nichts. ihm tun diese leute leid. er weiss nicht, gegen was oder gegen wen sie demonstrieren. 
er spricht mit niemandem, liest keine zeitungen hört nicht radio, sieht nicht fern.

Der Text am 1. Juli 1971 in der «Zürichsee-Zeitung».

tage, wochen vergehen. nichts ändert sich. der mann steht jeden
tag um halb sieben auf, macht immer den gleichen spaziergang.

 

eines
tages, es ist wieder samstag, sieht der mann auf dem bahn-
hofplatz wieder die gleichen leute. wieder tragen sie plakate, wieder rufen und schreien sie, wieder die polizisten.

er bleibt stehen. er schaut diese leute an, sieht ihre gesichter,
ihre bewegungen. und plötzlich geschieht in diesem mann etwas
sonderbares: er macht sich gedanken, am anfang nur einzelne, noch sind sie ungeordnet und ohne zusammenhang. doch es sind gedanken, sie mehren sich, werden klarer.

- was ist nicht richtig in dieser welt?
- warum sind diese leute nicht zufrieden?

er weiss es nicht. er kann es nicht wissen. er redet mit niemandem. er geht nach hause. die gedanken lassen ihn nicht mehr los. sie werden noch klarer. er überlegt noch weiter.

- warum weiss ich nicht, was nicht richtig ist?
- warum weiss ich keine antworten?

am nächsten tag geht er wieder auf seinen spaziergang.

«was ist nicht richtig?» fragt er einen jungen mann am bahnhofplatz.
es ist seit langer zeit die erste frage, die er einem menschen
stellt. doch er bekommt keine klare antwort.

«du begreifst es sowieso nicht.»

enttäuscht geht er nach hause. doch er gibt nicht auf.

- was begreif ich nicht?
- vielleicht hat dieser junge mann recht, ich begreif wirklich nichts.

am
nächsten tag macht er nicht seinen gewohnten spaziergang. die
ganze nacht hat er nicht geschlafen. sein kopf ist voller gedanken, aber die gedanken machen ihn noch unsicherer. er will begreifen und kann nicht. auf seinem spaziergang ist er oft an einer buchhandlung vorbeigekommen, er war noch nie in diesem laden. heute geht er hinein.

«ich will begreifen!»
«was?»
«alles.»

der verkäufer entfernt sich, wirft noch einen blick auf den mann, schüttelt den kopf. der alte mann ist enttäuscht.

zu hause überlegt er weiter.
 - ja, was will ich eigentlich begreifen?

wieder schläft er die ganze nacht nicht. am morgen glaubt er sogar
eine antwort zu wissen. er geht in die buchhandlung, wieder kommt
der gleiche verkäufer.

«ich will begreifen, wie die welt ist.»

zuerst schweigt der verkäufer, dann beginnt er zu lachen. wieder
steht der alte mann allein im laden.

 

zu
hause nimmt der mann ein blatt papier und einen ungespitzten
bleistift beginnt er zu schreiben. seine hand zittert dabei. seine
schrift ist undeutlich, fast unleserlich. er schreibt sich sachen auf auf, die er begreifen will. die ganze nacht schreibt er, zwei blätter voll. 

wieder geht er am morgen zur buchhandlung. doch kein verkäufer
will ihn bedienen, sie beachten ihn nicht. da beginnt der alte mann zu rufen, seine stimme bebt dabei.

«ich will begreifen. alles. ich weiss jetzt, was ich begreifen will!»

endlich, sichtlich widerwillig, kommt ein verkäufer. der alte mann
wird wieder ganz ruhig. er spricht klar. er hat den satz auf ein
blatt papier geschrieben.

«ich will geschichtsbücher, ganz von vorne.»

der Verkäufer wird immer freundlicher. er kann diesem alten mann vielleicht etwas verkaufen. er holt ihm bücher, immer mehr bücher, teure, vor allem teure. der mann schaut die titel an, sie sagen ihm  nichts. nachdem ihm der verkäufer alle bücher gezeigt hat, kauft er die fünf grössten. er will alles begreifen.

er
kommt nicht weit mit lesen. er findet immer mehr ausdrücke und
wörter, die er nicht verstehen kann. im laden steht der verkäufer
sogleich vor ihm und macht ein freundliches gesicht.

«ich will ein buch, indem wörter stehen, die ich nicht begreife.»

Der verkäufer überlegt zuerst. nachdem der alte mann seinen satz
nochmals wiederholt hat, bringt er ihm verschiedene lexiken.
wieder kauft der alte mann das grösste. er will alles begreifen.

tagelang geht der mann nicht mehr auf die strasse. er sitzt hinter
seinen büchern, schreibt sich sachen auf und liest. nicht einmal
zum schlafen hat er zeit. jedes buch liest er dreimal, bis er alles begreift. auf ein besonderes blatt schreibt er auf, was er noch
genauer kennen will. er kauft bücher, über den kommunismus, den
faschismus, über marx, über lenin. er liest auch diese bücher,
die meisten zwei- oder sogar dreimal.

 

bis
er alles begreift. er glaubt es wenigstens. er redet mit niemandem.

Kommentare

  1. Lieber Fredy Wettstein
    Vielen herzlichen Dank für all die interessanten - und manchmal auch traurigen - Geschichten im 2020 und die vielen hübschen Fotos vom "Mister Bildersuchender"!
    Ich freue mich schon jetzt auf viele - hoffentlich erfreuliche Beiträge im 2021. In diesem Sinne: Happy New Year, take care, get well and all the best!
    Liebe Grüsse
    Katrin

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