Ein Gefangener des Ruhms

Diego Armando Maradona, ein Leben zwischen Triumphen und Abstürzen.

Es war im Juni 1986, in Mexico-City, ein heisser Nachmittag in dünner Luft, 115 000 Zuschauer im Aztekenstadion, wir sassen auf der Medientribüne und glaubten nicht, was wir eben gesehen hatten: Den ersten Engländer. Den zweiten. Den dritten. Den vierten. Den fünften. Den sechsten. Hinter der Mittellinie war Diego Maradona gestartet, mit einer Pirouette, den Ball immer an seinem magischen linken Fuss, wie ein Slalomläufer, manchmal schien er die Balance zu verlieren, aber er fiel nicht um, elf Sekunden war er am Ball, 12 Berührungen, 50 Meter lang sein Weg, die Fifa wählte es später zum Tor des Jahrhunderts. «Genie, Genie, ich will heulen, heiliger Gott, es lebe der Fussball, von welchem Planeten kommst du?», schrie ein Radioreporter. Es war damals in Mexiko Maradonas zweites Tor gegen die Engländer, das erste hatte er mit der «Hand Gottes» erzielt, wie ihm in den Mund gelegt wurde, der «Mano de Dios.» Seit diesem Tag ist er in Argentinien D10S, ein Gott mit der Nummer 10.

Es war 1990 in Neapel, bei der WM in Italien, in Forcella, dem Quartier der Ärmsten, Mitternacht schon, und in einer engen Gasse spielten kleine Kinder mit einem Plastikball, ein Vater sass auf einem schweren Motorrad, sein figlio, vielleicht acht, hatte einem Kollegen den Ball zwischen den Beinen durchgespielt und war dann zu ihm gerannt und hatte gerufen: «Io sono Diego». Der Papa war stolz, er war Italiener, Italien hatte an diesem Abend auch gespielt, aber Neapel war die Stadt von Maradona, Maradona war Neapel.

Das Tor der Jahrhunderts: Maradona, WM 1986 in Mexiko, Viertelfinal gegen England. (Youtube)

Es war 1989, Wettingen spielte im Europacup gegen den SSC Neapel, das Spiel musste im Letzigrund stattfinden. Am Abend zuvor trainierte er im Stadion, 1500 kamen, Wettingen verlangte zehn Franken als Eintritt, Maradona störte es, dass ein Verein Geld damit verdient.

Es war auch 1989, in München, ein Europacupspiel der Bayern gegen Neapel im Olympiastadion, alle Spieler liefen sich seriös ein, doch er trabte hin und her, die Schuhbändel offen, jonglierte und tanzte mit dem Ball auf dem Kopf, dem Rücken, den Schultern, dem Knie, wieder am Fuss, einmal links, dann rechts, später schwenkte er seinen damals schon runden Bauch und klatschte dazu im Rhythmus des Opus-Songs «Live is life».

Maradonas Aufwärmprogramm mit Musik: München 1989. (Youtube)

Es war nochmals in München, 2010, ein Testspiel vor der WM, Maradona war jetzt Trainer der Argentinier, die Aufregung riesig. Beim Training am Tag zuvor, eingepackt in eine dicke Jacke, er sah aus wie ein Michelin-Männchen, er paffte eine dicke Zigarre, und nach dem Spiel sass er anfänglich missmutig auf dem Podium, sagte, er rede nicht vor der Presse, wenn ein Spieler neben ihm sitze: «Was soll der hier?» Er stampfte davon, wartete in einer Ecke, bis sich der Spieler brav entfernte. Der Spieler war Thomas Müller und hatte zuvor zum ersten Mal für die deutsche Nationalmannschaft gespielt. Maradona hatte ihn nicht erkannt.

Es war in Mailand, anfangs der neunziger Jahre, die Lifttüre in einem Hotel war aufgegangen, und er kam herein, Diego, im dritten Stock ging er wieder, wortlos, der Reporter auch wortlos, er war sprachlos.

Es war in einem Zürcher Kino, der Film «Diego Maradona» des britischen Regisseurs Asif Kapadia, berührende, hinreissende und melancholisch-traurige Bilder, fast ausschliesslich aus privatem Archivmaterial, das Leben von Maradona in Neapel, er sollte zeigen, dass es zwei Menschen gibt, Diego und Maradona. Fernando Signorini, sein Konditionstrainer, sagt im Film: Mit Diego würde er bis ans Ende der Welt gehen, mit Maradona nicht mal bis zur nächsten Ecke. Und am Schluss gibt es diese Szene, es sind Aufnahmen von 2016. Maradona, rund wie ein Ballon, er kann kaum gehen, steht auf einem Bolzplatz in Buenos Aires, um ihn herum spielen sie, dann gibt ihm einer den Ball, er dribbelt kurz, schiesst - und strahlt wie ein glücklicher Fussballer. Den Ball hatte ihm Diego Armando Maradona Junior zugespielt, sein unehelicher Sohn aus Neapel, den er so lange verleugnet hatte.

Der grossartige Film von Asif Kapadia über Maradonas Leben in Neapel.

Es war ein zweiter grossartiger Film, auch damals in einem Zürcher Kino, er war zehn Jahre früher erschienen, «Maradona by Kusturica» des serbischen Regisseurs Emir Kusturica. In einer Szene planscht er, dick und fett, in einem Pool, mitten in der Nacht, er skandiert «Fidel, Fidel», den Castro hat er auf einem Bein tätowiert, Che Guevara auf einem Oberarm. Er sagt im Film: «Ich weiss nicht, was ich in der nächsten Viertelstunde mache, die Versuchung lauert an der nächsten Ecke.» 

«Wenn ich sterbe, dann will ich wiedergeboren werden
und Fussballer sein.
 Ich will wieder Diego Armando Maradona sein.»

Diego Maradona war göttlich auf dem Rasen, aber er verdribbelte sich im Leben immer wieder, wandelte zwischen Himmel und Hölle. Er lag dreimal auf der Intensivstation im Sterben, die Nachrufe waren schon verfasst. Er soff und kokste, randalierte und rebellierte, war idiotisch und weinerlich-liebenswürdig, manchmal auch witzig, er litt unter Depressionen. 

Er zielte mit einer Schrotflinte auf Journalisten, spielte nächtelang Golf mit einem Bergarbeiterhelm auf dem Kopf, einer Halogenlampe und einem fluoreszierenden Ball, er kickte bei Minustemperaturen um Mitternacht in seinem Garten, bekam eine Lungenentzündung und landete in einer Nervenheilanstalt auf Kuba. Er wog zwischendurch 130 Kilogramm, färbte seine Haare orange.

Und einmal lag er nach einer Herzattacke auf der Intensivstation in einer psychiatrischen Klinik und sagte später: «Hier lief einer rum, der sich für Napoleon hielt und einer für Robinso Crusoe, aber mir haben sie nicht geglaubt, dass ich Maradona bin.» 

Er hat eine eigene Kirche, die Iglesia Maradoniana. Die Gläubigen haben eine eigene Zeitrechnung, sie beginnt mit seiner Geburt, als Bibel gilt seine Biografie und zu den zehn Geboten gehört unter anderem, dass der Ball nicht befleckt werden darf. Sie beten ihr «Diego Unser».

Maradona führte ein Leben zwischen Triumphen und Abgründen, immer wieder benutzt von falschen Freunden, der Ruhm machte ihn zu einem Gefangenen, er war immer wieder überfordert. Sein Leben eine einzige Tragik. Jorge Valdano, einst sein Mitspieler, heute Fussball-Philosoph, sagte einmal: «Sein Fall scheint kein Ende zu haben. Niemand, der das fesselnde Abenteuer, Maradona zu sein, erlebt hat, kann wieder ein normaler Mensch sein. Jeder von uns hätte sich mit dem Teufel eingelassen, um so zu spielen wie Maradona, aber Diego würde seine Memoiren aufgeben, um so zu sein wie ein normaler Mensch.»

Maradona wurde schon einige Mal für tot erklärt, er ist immer wieder auferstanden, er hielt sich für unverwundbar. An diesem Mittwoch verlor er aber den Kampf, sein Herz hörte auf zu schlagen, wenige Wochen nach seinem 60. Geburtstag. Am 25. November, an einem 25. November (2016) ist auch sein Freund Fidel Castro gestorben. «Wenn ich sterbe, dann will ich wiedergeboren werden und Fussballer sein. Ich will wieder Diego Armando Maradona sein», sagte er einmal.

Diego Armando Maradona war ein phänomenaler Fussballer, für viele der Beste, den es je gab. Sicher der charismatischste. Er war ein Ereignis, in jeder Beziehung. Sein Fussball grosse Kunst. Sein Leben eine Tragödie.

75 000 Zuschauer im Stadion, nur um ihn ein erstes Mal zu sehen: 1984, Stadio San Paolo in Neapel.








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