Totò, 30 Jahre danach

Totò Schillaci, die Sternschnuppe in einem italienischen Sommer: WM 1990.

Es war im Sommer 1990, Folge 2 meiner täglichen Kolumne im «Tages-Anzeiger» zur Fussball-WM in Italien, «Famiglia Galli» hiess sie, es war 
eine Familiengeschichte. Italien hatte zum ersten Mal gespielt und 1:0 gewonnen gegen Österreich. 


«Totò!», schrieb ich damals.

«Weshalb rufst du ihn Totò, unser Sohn heisst doch Fabio», sagt Mutter Alice.

«Ja, natürlich, scusa, aber was meinst du, mia cara, wir könnten ihm doch Totò als Übernamen geben, das wäre doch schön, findest du nicht?»

«Aber jetzt reicht es. Die Nummer 19 musste ich ihm heute morgen früh schon auf sein neues Maglia nähen, die Sonntagskleider durfte er nicht anziehen, sondern er musste unbedingt in diesem blauen Maglia und eben mit der 19 auf dem Rücken mit uns in die Messe kommen. Und du auch, Salvatore! Das sieht doch lächerlich aus, du mit diesem blauen Schal um den Hals, selbst jetzt zuhause.»

«Aber Mamma», mischt sich jetzt auch Fabio ein, «es war doch lässig gestern Abend, als ich mit dem Papà nochmals nach draussen auf die Strasse durfte. Wir sind zuerst mit einer Fahne zum Bahnhof gelaufen, ein Gelato hat er mir gekauft, und nachher hat Papà noch unser Auto aus der Garage geholt. Wir sind immer wieder durch die Hauptstrasse gefahren, mit offenen Fenstern, und ich durfte dem Papà auf den Knien sitzen und ständig hupen. Nur einen Barbiere haben wir leider so spät in der Nacht nicht mehr gefunden.»

«Barbiere?!» ruft die Mamma entsetzt und schaut ihren Mann an. «Aber du wolltest doch nicht die schönen schwarzen Locken von Fabio ... ?»

«Sicuro», antwortete der Vater, «so kurze Haare, wie sie unser Totò Schillaci trägt, das ist jetzt modern.»

Kolumne «Famiglia Galli»: Im Tagi während der WM 1990. 

25 Tage später erschien die letzte Folge dieser Familiengeschichte, «Schweigen» hiess sie, Italien hatte den Halbfinal gegen Argentinien im Elfmeterschiessen verloren, Schillaci im fünften Spiel sein sechstes Tor geschossen, er war der beste Torschütze der WM gewesen.

Sie sitzen alle zusammen am Tisch und schweigen. Und das Telefon läutet. Und sie schweigen weiter. Und jemand klopft an der Haustür. Und sie antworten nicht.

Der TV-Apparat ist nicht mehr da und das Fenster offen.

Es ist still, und auch von draussen hört man nichts. Keiner hupt. Keiner schreit. Niemand jubelt.

«Diese Ruhe», sagt plötzlich die Mutter.

«Schweig bitte!», antwortet der Vater.

Und sie schweigen weiter. Lange, sehr lange.

Bis Fabio es nicht mehr aushält und ganz leise sagt: «Vielleicht wäre es besser gewesen, wir hätten früher mehr geschwiegen. Wenn es still ist kann man nämlich ganz gut träumen, und was hat doch unser Totò gesagt: ‘Bitte, lasst mich doch weiter träumen, weckt mich nicht auf.’ Glaubst du nicht, Papà, wir sind vielleicht zu laut gewesen. So musste er ja aufwachen.»

Heute, 30 Jahre später, widmet die «Gazzetta dello Sport» in ihrer Samstagsbeilage «Sportweek» sechs Seiten Salvatore Schillaci, den alle nur Totò rufen. Er wohnt längst wieder in Palermo, wo er zusammen mit sieben Geschwistern in einem Armenviertel am Stadtrand aufgewachsen ist. Mit 14 hatte er die Schule verlassen, die Lehre nachher abgebrochen, weil er nur eines wollte: Fussball spielen. Heute, 55 ist er, leitet er eine Fussballakademie. 

Schillaci war eine Sternschnuppe in einem wunderbaren italienischen Sommer. «Un' estate italiana», wie die WM-Hymne von Edoardo Bennato und Gianna Nannini hiess, sie singen von magischen Nächten mit Torschüssen und von den Träumen, die in der Kindheit beginnen und jetzt wahr werden. Schillaci verzauberte ein Land, mit seinen grossen, dunklen und feurigen Augen und seinem stechenden Blick, manchmal anklagend und gezeichnet von einem harten Leben, manchmal flehend, manchmal suchend und fragend – und eben: seine Augen und wie er leidenschaftlich jubelte nach seinen Toren, er kniete auf den Rasen und streckte seine Arme weit aus, als wolle er ganz Italien umarmen.

Der scheue Schillaci war der Meteor, der einen Sommer, genau: einen Monat lang strahlte. 
«Schillacissimo» schrieb die «Gazzetta» in den grössten Buchstaben auf der Frontseite. Wenige Wochen zuvor hatten sie ihn noch in vielen Stadien mit «Terrone», dem Schimpfwort für jene aus dem Süden, beleidigt und auch bespuckt, in Zeitungen stand geschrieben: «Was soll den der in unserer Squadra?» Er selber glaubte, die WM nur auf der Tribüne erleben zu dürfen.

Dann wurde er im ersten Spiel gegen Österreich eingewechselt, schoss zwei Minuten später sein erstes von sechs Toren. Er war der Meteor, der einen Sommer - genau: einen Monat - lang strahlte. Bei Sternschnuppen soll man die Augen schliessen, und dann darf man sich etwas wünschen, 
aber niemandem davon erzählen. Sonst geht der Wunsch nicht in Erfüllung.

Vielleicht ahnte er es damals in diesem schönen italienischen Sommer und flehte deshalb, man solle ihn doch nicht aufwecken und weiter träumen lassen.

Schillaci haben noch heute alle gern, er sagt von sich, er sei ein schüchterner Mann. Seine Söhne seien überrascht gewesen, als sie erfuhren, wie bekannt ihr Vater einmal war.



Totò Schillaci (55) heute: Leiter einer Fussballakademie in Palermo.

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