Pippo und ein Zuschauer

Der Cantautore Pippo Pollina in seinem neuen Tonstudio:  Zürich-Seefeld, 2020.

Welches war das schönste Konzert? war die Frage gewesen. Pippo Pollina, der Musikpoet aus Palermo, der schon lange in Zürich lebt, hat schon einige tausend Konzerte gegeben. Wir sitzen beim Frühstück in seiner Wohnung im Seefeld, wir haben über vieles geredet, über Fussball, wie er damals im Sommer von Italia‘90 zusammen mit Kollegen zum Haus von der Familie Schillaci gelaufen ist und der Vater von Totò auf dem Balkon stolz gewunken hat, wie ein Papst; über seine Begegnung mit dem Sprinter Pietro Mennea, dem «Freccia del Sud», weil dieser so schnell wie ein Pfeil gerannt ist, auch Olympiasieger wurde, er hatte ihm ein Lied gewidmet, «Io, lei e Pietro».

Und eben die Frage nach dem schönsten Konzert. Er erzählt von einem, anfangs 1991, der Golfkrieg eben ausgebrochen, die Menschen waren sehr verunsichert. Pippo Pollina fuhr mit seinem klapprigen roten Opel Kombi erst durch Frankreich, dann durch Deutschland, nur er mit seiner Gitarre, ganz alleine, er war noch kaum bekannt, vor kurzem noch Strassenmusiker, die Konzerte in kleinen Theatern waren schlecht besucht, auch weil die Leute in dieser Zeit lieber zu Hause blieben. Und dann eben dieser Auftritt in Grenoble, ein kleines Lokal, Pippo war nachmittags angekommen, hatte noch etwas geübt, und dann kam er am Abend mit seiner Gitarre auf die Bühne, vor ihm im Saal für vielleicht 100 Leute sass nur ein Mann, in der ersten Reihe, er sagte: «Je suis le spectateur.» Er lachte, Pippo lachte auch.

Ein Zuschauer. Ein Einziger. Pippo spielte zwei Stunden lang, sie redeten zwischendurch miteinander, Pippo sang, der einzige Zuschauer applaudierte – und heute, fast 30 Jahre später und Pippos Konzerte sind inzwischen fast immer ausverkauft und er hat an vielen grossen Theatern gespielt, auch in der antiken Arena von Verona, sagt er: «Das war vielleicht mein schönstes Konzert.» 


«Io, e il spettatore», es könnte ein Lied sein.

Wir gingen an diesem Morgen in seiner Wohnung im Seefeld nachher nach unten, er hat dort ein modernes Tonstudio eingerichtet, mit allen technischen Raffinessen. Wochenlang hat er hier geübt, Musik aufgenommen, Lieder geschrieben, komponiert, nachgedacht, am Piano gesessen, Gitarre gespielt, gesungen, am Computer andere Instrumente beigemischt, getextet, Sätze gesucht, oft war er zehn und mehr Stunden am Tag hier. Das Ziel: Seine neue CD, sein 20. Album inzwischen, und dann wieder Konzerte ab nächstem Januar, die Orte sind bekannt, Chur, St. Gallen, Zürich, dann auch Salzburg, München, Leipzig, Köln, Hamburg, Frankfurt, ganz viele, vielleicht würde er irgendwann wieder nach Grenoble gehen, der Zuschauer, sein Zuschauer, käme vielleicht auch, aber er wäre sicher nicht mehr alleine im Lokal.


Begegnung mit dem 2013 verstorbenen Sprinter Pietro Mennea: Palermo, 2001.

Aber? Macht es Sinn, die neue CD jetzt zu produzieren? Können diese Konzerte im nächsten Jahr überhaupt stattfinden?

Pippo Pollina geht es wie ganz vielen Künstlern in dieser Zeit, wie vielen Theaterhäusern, wie vielen, die (nur) davon leben, auftreten zu können, vor möglichst nicht nur einem Zuschauer. Alles bleibt ungewiss. Und belastend.

Ich sitze in seinem Studio, auf einem kleinen Sofa, Pippo sitzt in seinem Stuhl vor seinem Computer, viele Farben leuchten auf, jede Farbe bedeutet ein Instrument, viel Technik, grosse Lautsprecher, Kopfhörer, Mikrofone - aber vor allem ein wunderbarer Genuss. Pippo lässt eines der Lieder seines fertigen, aber noch nicht produzierten Albums abspielen. Es hat einen ungewohnten Titel, auf Züritüütsch, «Heb mi no mis Härz», heisst es, sonst ist der Text wie immer bei ihm nur italienisch gesungen, es ist ein Stück, das ans Herz geht, seine neue CD soll sehr poetisch, weniger politisch sein.

Ich und das Lied, ganz allein. So muss sich der Zuschauer, sein einziger, damals auch in Grenoble im kleinen Theater gefühlt haben.

Kommentare

  1. Oh, ich bin gespannt <3 Schön geschrieben auf jeden Fall - wie immer :-)

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