Mein Vater und Churchill

Sir Winston Churchill im offenen Dienstwagen des Bundesrates und mein Vater Karl auf dem Motorrad (vorne links): Bern, im August 1946.

Das Bild lag abgelegt in einem der vielen Ordner meines verstorbenen Vaters, schwarz-weiss, etwas vergilbt ist es. Er hatte hinten mit Bleistift draufgeschrieben: «1946. Auf dem Weg nach Kehrsatz.» Es muss für ihn sein Dokument gewesen sein, er hat manchmal davon erzählt, und er war stolz, dass er dabei sein durfte.

Es war im Sommer 1946, mein Vater eben 20 geworden, musste in Thun in die Rekrutenschule einrücken, Mot. L. Trp II/46, auch das hatte er auf der Rückseite vermerkt. Und schon nach wenigen Wochen wurde er zusammen mit 20 anderen Rekruten ausgewählt, eine Spezialaufgabe zu erfüllen, sie mussten dafür mit ihren Armee-Motorrädern besondere Trainings absolvieren, akrobatisch liegend und stehend.

Und dann kam der sonnige Tag in diesem Spätsommer 1946, der britische Premier Sir Winston Churchill war schon seit einigen Wochen in der Schweiz, und er besuchte an diesem Tag Bern. Zehntausende standen entlang den Strassen, die Stadt war beflaggt, und Churchill wurde in einem offenen Dienstwagen des Bundesrates durch Bern gefahren, er sass im schwarzen Anzug – mit Hut und wie immer einer Zigarre im Mund – zusammen mit seiner Tochter Mary auf dem Rücksitz, viele Blumen in der Hand. Von Bern aus ging es nach Lohn in Kehrsatz, dem Landsitz des Bundesrates.

Der persönliche Handschlag als Dank und die Churchill-Zigarre.

Und gleich neben dem Wagen und Churchill, zuvorderst der Rekruten-Eskorte, fuhr mein Vater auf dem Motorrad, mit Helm, sein Gewehr umgehängt, es ist dieses Bild, das ich im Ordner gefunden habe. Es war für den britischen Premier eine Triumphfahrt gewesen, die Schweizer dankten ihm für seine unbeugsame Haltung im Zweiten Weltkrieg.

Davon erzählte mein Vater manchmal, auch vom Handschlag, mit dem sich Churchill nach dem Aussteigen in Kehrsatz bei jedem Rekruten persönlich bedankte und der Churchill-Zigarre, die er dazu bekommen hatte.

Aber was ich heute bedaure, in diesen Zeiten, in denen unser ganzes Leben erschüttert ist und wir nicht wissen, wie es weitergeht und was noch kommen wird, und es heisst, nie mehr seit dem Zweiten Weltkrieg sei es so schwierig gewesen: Warum habe ich nicht häufiger mit meinem Vater darüber gesprochen und erfahren wollen, wie es damals war? 



Auf dem Weg zur Überwachung eines Flüchtlingslager (mein Vater ganz rechts): Adliswil 1944.

Er habe, davon zeugt auch ein Bild, vor der Rekrutenschule schon in der Ortswehr Küsnacht Aktivdienst leisten und einmal auch ein Flüchtlingslager in Adliswil bewachen müssen. Mehr weiss ich nicht darüber.


Was erzählen in 75 Jahren die Bilder von 2020? Oder gibt es dann gar keine Bilder und Ordner mehr? Sind diese längst nur noch in irgendwelchen Clouds? Und vielleicht unerreichbar?

Kommentare

  1. Hühnerhaut! Toll erzählt! Danke :-)
    Ich bereue auch, dass ich meinen Grossvätern kaum Fragen zu dieser Zeit gestellt habe.

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  2. Erschütternd, warum wir erst fragen, wenn es zu spät ist. Warum?

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