In diesen Zeiten – XXII. bis XXV.

Lionel trainert, jeden Tag, eisern: April 2020.

XXIII.

Ich stehe in einer Schlange von wartenden Menschen, alle zwei Meter steht jemand, wie man es muss in diesen Tagen, doch diese Schlange ist sehr lang, von Mitte der unteren Feldeggstrasse im Zürcher Seefeld bis über die Dufourstrasse hinaus. Es ist kein Migros, kein Coop, kein Aldi. Wir warten vor einem Laden, der nur einen Artikel verkauft, es ist ein Stand für Spargeln in einem privaten Innenhof, wunderbare Spargeln, die am gleichen Morgen frisch aus Baden-Württemberg geholt wurden. Auch heute noch, trotz fast geschlossener Grenzen.

Caspar Ruetz, früher ein Banker, Börsenchef bei einer Privatbank, hatte seinen Job in der Finanzkrise 2008 verloren. Es sei eine Chance für neue Wege, sagte er damals, und er hatte dann diese Idee mit den Spargeln, selber importiert von badischen Bauern. Er ging in Zürich von Restaurant zu Restaurant, von Hotel zu Hotel und fragte, ob sie Interesse hätten. Sie hatten, über 100 Abnehmer waren es zuletzt. Ruetz fuhr mit seinem Lastenvelo und seinem Gemüse quer durch die Stadt, seit drei Jahren. Die Spargeln waren begehrt.

Bis dieser Virus kam. Und alle Restaurants geschlossen wurden.

Es gab Reklamationen, vor allem von Leuten, die offenbar neidisch waren auf jemanden, der eine Idee hatte - und damit Erfolg.
30 Minuten lang war ich in der Reihe, und dann kam ich beim Stand im Seefelder Hinterhof an. Caspar Ruetz diskutierte einige Meter daneben mit einem Mann in Zivil, er war, wie sich herausstellte, von der Sicherheitspolizei des Kantons, und zwei Polizisten der Kreiswache 8 standen auch daneben. Diese gingen bald wieder, sie hatten nichts zu beanstanden. Ruetz hatte die Erlaubnis für seinen Laden bei der Behörde eingeholt, es gab aber dann Reklamationen, vor allem von Leuten, die offenbar neidisch waren auf jemanden, der eine Idee hatte - und damit Erfolg. In 4 Stunden hatte er an diesem Donnerstag vor Ostern 830 Kilogramm Spargeln verkauft, die NZZ berichtete darüber.

Am gleichen Abend postete Ruetz dann aber auf Facebook:

+++ Breaking-Spargel-News-Update +++
Mein Laden ist ab sofort geschlossen.

Der Grund, so habe er es verstanden, sei die Wartekolonne auf dem Trottoir, der öffentliche Raum sei dadurch belastet worden. Sagte der Mann in Zivil, der von der Sicherheitspolizei. Beim Coop, wenige hundert Meter weg, an der Höschgasse, standen sie an diesem Morgen zur gleichen Zeit weit hinaus auf dem Trottoir.


Anstehen für Spargel: Zürcher Seefeld, im April 2020.

Jemand will trotz Krise etwas machen, die Kundschaft war gross und begeistert - und plötzlich darf er nicht mehr. Wegen irgendwelchen Paragraphen. Wegen Neidern. Wegen Nörglern. Wegen solchen, die sagen, sie seien in ihrem Homeoffice gestört worden.

Ruetz bekam bis Samstag über 400 Mails, fast nur zustimmende, viele mit Vorschlägen, wie er doch seinen Handel mit Spargeln weiterführen könnte.

Er ist traurig und überwältigt von der Solidarität. Die letzte Spargel ist, so scheint es, Stand Samstagabend, vielleicht doch noch nicht verkauft worden.   

+++ Breaking-News Ostersonntag, 11 Uhr +++
Stadtpolizei Zürich bewilligt Verkauf im Innenhof wieder.



Caspar Ruetz (l.) diskutiert mit der Sicherheits- und der Quartierpolizei: Zürich im April 2020.

XXIV.

Wenn jetzt 1990 wäre, vor 30 Jahren, und wir auch so eine Seuche hätten, die dann kaum Covid-19 hiesse, sondern vielleicht chinesische Grippe, was würde dann die Mutter oder der Vater zur Tochter sagen? «Sei ruhig, ich habe noch Bürobüetz. Ich muss noch fünf Briefe fertig schreiben und diese dringend auf die Post bringen. Drei Telefonate führen, und auch noch auf einen Fax warten.» Und das Papier ginge aus. Wie heute manchmal auch Papier ausgeht. Anderes.

XXV.

Lionel ist zehn, er geht in die 4. Klasse, spielt Fussball bei den Junioren E, aber wie alle anderen darf er in diesen Wochen nicht spielen. Es fehlt ihm. Lionel heisst nicht Lionel, weil seine Eltern dabei an den berühmten Lionel dachten, aber Lionel schwärmt für Lionel, den berühmten, er trägt oft das Leibchen mit der Nummer 10 von Barcelona, von Messi. Er schaut manchmal Videos von diesem an, geht in den Garten und versucht, es nachzumachen.

Im Instagram gibt es Videos von Fussballstars, sie zeigen, was sie machen, ohne Fussball, in ihren Villen und sonst wo. Cristiano Ronaldo, der mit den meisten Followern, wie seine Haare von seinem privaten Friseur gepflegt werden, er demonstriert vor allem immer wieder seinen Körper und jeden einzelnen Muskel; Lionel, der berühmte, sitzt artig mit Familie auf einem Sofa; andere posieren mit Freundin; Tim Klose, der Schweizer Nationalspieler von Norwich City, zeigt, wie er auf seinem Macbook eine Netflix-Serie anschaut, dummerweise ist auch ersichtlich, dass auf dem Bildschirm das Pornhub-Tab geöffnet ist.

Und Lionel, der erst 10 ist, hat sich selber einen Parcours im Garten gemacht, mit Markierungen auf dem Gras, Hindernissen und Bällen, er trainiert jeden Tag und lässt sich manchmal die Zeit stoppen.

Er würde solches gerne auch von den Grossen sehen, wie sie in diesen Zeiten für sich trainieren und nicht posieren.

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