In diesen Zeiten – I. bis XII.
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Das Velofahren wiederentdeckt: Zürich, April 2020. |
I.
Es war, heute scheint es, als wäre es schon lange her, doch es es war erst vor kurzem, der Winter war damals bereits ein Frühling. In den Zeitungen waren es nur kleine Meldungen, unter Vermischtem, im Radio bei den Nachrichten meistens am Ende, kurz vor der Börse und dem Wetter.In einer Stadt in China, wir haben den Namen vorher noch nie gehört und erst später wurde sie zu einem Begriff: Wuhan - in dieser Stadt, und es war von einem Wildtiermarkt und Fledermäusen die Rede, sollen Leute an einem Virus erkrankt sein; einige wenige,jeden Tag aber mehr, der erste Tote, noch mehr Tote.
Wir lasen und hörten die Meldung und vergassen es wieder. China ist weit, weit weg, das neue Jahr hat eben begonnen, 2020, was für eine schöne Zahl: Zwanzig-zwanzig, es soll ein gutes Jahr werden.
II.
Damals, am 11. September 2001, einem Dienstag, es war bei uns schon herbstlich kühl: Wir werden immer wissen, wo wir in diesem Moment waren, was wir gerade machten - und dann, als wir hörten, ein Flugzeug sei in New York in den Nordturm des World Trade Center geflogen, sassen wir alle ungläubig vor dem Bildschirm oder hörten es am Radio, alle Stationen hatten mit Sondersendungen begonnen.Und einige sagen, es ist gut, dass es nicht mehr sein wird, wie es einmal gewesen war.
Wir sahen live zu, und wir konnten nicht glauben, was wir sahen, wie ein zweites Flugzeug in das andere Hochhaus flog. Stundenlang blieben wir damals sitzen, gelähmt, entsetzt, telefonierten mit Freunden, auf der ganzen Welt gab es nur noch dieses Thema.
III.
Jetzt kam es schleichend. Erst China, lange nur China, China, das so weit weg ist, dann Italien, unser bella Italia, plötzlich in unmittelbarer Nähe, an der Grenze zu uns, vor unserer Tür.IV.
Es ist nicht ewig mit einem Datum verbunden wie 9/11. Es hat einen Namen: Corona-Virus, Sars-CoV-2. Und ein Bild: Eigentlich wäre es, wenn wir inzwischen nicht wüssten, was dahintersteckt, ein schönes Bild; die Farben, ein Kranz, man hätte sich darunter eine wundervolle Koralle aus der Tiefe des Meeres vorstellen können, geheimnisvoll. Doch es ist dieses Virus, das in uns hinein dringt, sich in unsere Lunge nistet, uns töten kann.V.
Es ist nichts mehr, wie es war. Und alle fragen sich, wird es jemals wieder sein, wie es war? Und einige sagen, es ist gut, dass es nicht mehr sein wird, wie es gewesen war, wir sind zu schnell, zu oberflächlich, zu selbstverständlich, zu zerstörerisch durch die Welt gerannt. Wir haben nicht mehr geschätzt, was wir haben. Wir waren habgierig. Rücksichtslos.VI.
Die Frau in der Bäckerei im Zürcher Seefeld, hinter Glas von mir abgetrennt, lächelte, ich habe nur ein Brot gekauft und noch zwei Osterchüechli, ich wollte das eigentlich gar nicht, und dann habe ich noch einen Cappuccino bestellt, trinken durfte ich ihn erst draussen, auf der Strasse, ein leeres 2er-Tram fuhr vorbei – aber die Frau, die ich nicht kenne, hat so lieb gelächelt, sich herzlich bedankt, dass ich etwas gekauft habe. Schön, dass sie gekommen sind,sagte sie.
Dieses Virus verändert uns.
VII.
Für wie lange?VIII.
Wir müssen das Haus unserer Eltern räumen, sie zogen ins Altersheim. Wir finden vieles, Erinnerungen an ein langes Leben. In einem verstaubten Ordner: Rationierungsmarken aus dem Jahr nach dem ersten Weltkrieg, eine Brotkarte, 300 Gramm pro Tag. Milchkarten. Käsekarten. Mehlkarten. Zuckerkarten. Sie sind von meinen Grosseltern.Die spanische Grippe 1918: Wie wurden unsere Grosseltern damals darüber informiert?
Auf einer nächsten Seite im Ordner: Der Ausweis zum Bezug von persönlichen Rationalisierungsausweisen, für meinen Vater. Auch Marken dazu: Für Seife, für Milch, für Brot, für Salat. «2. Weltkrieg, 1939 - 1945. Unvergessene Zeiten», hat mein Vater auf das Blatt geschrieben.
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Lebensmittelmarken wiederentdeckt: Küsnacht, April 2020. |
IX.
Was werden unsere Kinder, unsere Enkel einmal in verstaubten Kellern über das Jahr 2020 finden? Wird es nur eine Episode im Leben sein oder auch so einschneidend, dass es unvergesslich bleiben wird; wird es unser Leben, ihr Leben, das Leben der Enkel, verändert haben? Und wie?X.
Die spanische Grippe, lese ich, von 1918 gegen Endes des ersten Weltkrieges bis 1920, soll gegen 50 Millionen Todesopfer gefordert haben.Wie wurden unsere Grosseltern damals darüber informiert? Wie haben sie von der Grippe erfahren? Wie wurden sie gewarnt? Gab es auch täglich eine Bilanz mit den Toten? Hörten sie den ganzen Tag Radio?
XI.
Ich fahre mit meinem Velo, täglich mache ich das jetzt, ich habe plötzlich das Velofahren wieder entdeckt, einmal fahre ich in diese Richtung, dann in eine andere, einfach los, ziellos, irgendwohin; einfach, um Velo zu fahren, draussen zu sein an der Luft, und ich sehe und beobachte ganz vieles, das mir bisher verborgen blieb.An diesem Sonntag, es war ein grauer und trüber Tag, es begann leicht zu regnen, bin ich in die Stadt gefahren, mittags um zwölf, ich war fast alleine, und Edward Hopper, der Maler der Melancholie und der Einsamkeit, kam mir in den Sinn. Seine Bilder mit Menschen, die irgendwohin schauen, ins Leere, die vor einem Haus stehen, alleine.
In diesen Tagen stösst man in den sozialen Netzwerken immer wieder auf Hopper-Bilder, das vielleicht berühmteste, «Nighthawks», wurde bearbeitet, nur ein leeres Lokal, kein einsamer Mann an der Bar, kein Pärchen, das mit dem Barman plaudert, keine Nachtschwärmer. Niemand. Alles grau in grau, leer und kalt. Eine verlassene Welt.
Ich fuhr an diesem trüben Sonntag am «Serge» vorbei, im Seefeld, es ist mein Bistro, in dem ich sonst fast täglich einen Halt mache, für einen Café, für einen Apéro, ich habe viele meiner früheren Kolumnen hier geschrieben, es war so etwas wie mein Homeoffice. Es ist geschlossen, leer, verwaist. Wie alles.
Herrlich, danke dir!
AntwortenLöschenSchön zu lesen!
AntwortenLöschenSchön, dich hier zu lesen, lieber Fredy.Auch als Blogger kann man nach ersten und letzten Sätzen suchen - geht doch!
AntwortenLöschenHerzlich grüsst spy