Frühstück mit Pippo und Linard

Keine Konzerte, kein Publikum im Saal, auch hier wäre Pippo Pollina aufgetreten: Winterthur, Casino-Theater.

Wir sprachen über das, worüber man in diesen Zeiten fast immer als erstes spricht, auch wenn man eigentlich genug hat vom stets gleichen Thema. Es begann schon bei der Begrüssung, man zögerte, lächelte etwas verlegen, eigentlich hätte man sich jetzt umarmen wollen, kurz nur, aber den einen Arm über den anderen Rücken und der Arm des anderen über den eigenen Rücken, einfach liebevoll und herzlich – jetzt blieb man stehen. Nickte, sagte aus Distanz. «Buongiorno amico mio.» Der Arm hätte gewollt, er durfte nicht.

Ich traf Pippo Pollina, den Liedermacher aus Palermo, der schon lange in Zürich lebt, in seiner Wohnung im Seefeld, er machte Cappuccino, ich holte Gipfeli beim Wüst nebenan. Und eben, wir begannen zu reden, mit was man seit Wochen zu reden beginnt. Und nachdem wir über verschiedenes sprachen, über Theorien und Spekulationen, ob es vielleicht doch nicht der Huanan-Markt in Wuhan war, wo alles begann, mit den vielen Tieren, grossen und kleinen und eben auch Fledermäusen, sondern ein chinesisches Labor – nach vielen Fragen und Mutmassungen und Gedanken kamen wir zu diesem Schluss:

Wir wissen vieles, und wir wissen, dass wir vieles nicht wissen, weil viel zu viele glauben, etwas zu wissen. Und es oft das Gegenteil ist von dem, was ein anderer glaubt zu wissen.

Das Leben ist noch komplizierter geworden. Noch selten wussten wir nicht, was wir gerne wüssten.

Das Telefon läutete. Und was für ein Zufall. Linard Bardill, der Bündner (Kinder-)Liedermacher und Geschichtenerzähler, meldet sich bei Pollina, er sei gerade in der Nähe, ob er kurz vorbeikommen könne. Er kam. 


Linard Bardill und Pippo Pollina in der «Bleiche»: Wald, Juli 2019.

Bardill hat Pollina entdeckt, es war in den achtziger Jahren, als er ihn auf der Quaibrücke in Luzern am Boden sitzend mit seiner Gitarre spielen und singen sah. Er hatte ihm damals zugehört, er war beeindruckt, sagte ihm, du wirst einmal im Zürcher Hallenstadion auftreten, und er bot ihm an, mit auf seine nächste Tournee kommen zu können. Pollina spielte dreissig Jahre später ein Konzert im Hallenstadion, Pollina und Bardill traten zusammen vor einem Jahr im Freien in der «Bleiche» in Wald an einem warmen Sommerabend auf.

Jetzt sassen wir also zu dritt und tranken Cappuccino und assen Gipfeli und plauderten, natürlich über das. Aber plötzlich anders, auch wenn die beiden wie alle Künstler, die momentan nicht auftreten können und Konzerte und Aufführungen verschieben müssen, sehr darunter leiden.


Bardill sagte, er gäbe doch auch Positives. Man habe mehr Zeit, man sitze sich gegenüber, klar, mit Abstand, und schaue sich in die Augen, man habe Zeit, sich in die Augen zu schauen. Irgendwie rede man anders miteinander, geduldiger. Pollina erzählt, wie er fast jeden Abend um zehn zusammen mit seiner Frau durchs Seefeld spaziert und Gassen und Häuser und Bäume und Ecken entdeckt, die er noch nie gesehen hatte, obschon er doch schon so lange hier wohnt. Er möchte ein Lied darüber schreiben.

«Ein Spaziergang im Wald ist viel eindrücklicher als früher ein Tauchgang in den Korallen des Barrier Reef», sagt Linard Bardill.

Gleiches passiert beim Velofahren. Bardill erzählt von Fahrten durchs Domleschg, am frühen Morgen, wie schön das sei, in der klaren Luft. Und dieser Himmel, sagen beide, sei fast immer nur blau in diesen Tagen, blau, blau, keine Streifen, unbefleckt von irgendwelche Spuren von Abgasen der Flugzeuge, die irgendwohin fliegen. Und es jetzt nicht mehr tun. Pollina erzählt von seinem Tonstudio, das er im Keller des Hauses einrichten wird, und wie er sich wie ein kleines Kind darauf freue. Und Bardill hat kürzlich in seinem Atelier in Scharans vier Auftritte gehabt, Musik und Erzählungen, über 14'000 haben auf seiner Website zugeschaut, sehr viele kleine Kinder. Er ist stolz.

Und so wird der Morgen im Zürcher Seefeld fröhlich und optimistisch. Linard Bardills Geschichte am anderen Morgen in der Sendung «Morgengeschichte» von Radio SRF 1 trägt den Titel «Krankheit», er sagt: «Ein Spaziergang im Wald ist viel eindrücklicher als früher ein Tauchgang in den Korallen des Barrier Reef.»

Und in seinem Bündner Dialekt tönt es noch glaubhafter.

Einfach blau, nur blau, ein Himmel ohne Streifen: Zürich, Seefeld, April 2020.




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