Der Sänger, der Zöpfe backt

Das Geisterkonzert in Rubigen und das Geisterspiel in Madrid.

Die Band Halunke, Konzert ohne Publikum: Rubigen, März 2020.

Es sind zwei Kultstätten, so ganz unterschiedliche, aber in beiden gab es schon viele magische Momente und Nächte und wird es auch wieder solche geben. Die eine in einer Weltstadt, die andere in einem kleinen Dorf. Die eine ist das Estadio Santiago Bernabeu, dieser riesige Fussballtempel mit den steilen Betonrampen mitten von Hochhäusern in der Innenstadt von Madrid; die andere die Mühle Hunziken in Rubigen zwischen Bern und Thun, nur Mühli nennen sie die Berner liebevoll, ein einzigartiges Konzertlokal, überall stehen auch skurrile Kunstgegenstände und Figuren herum, ein Superman, ein Spiderman, Frankenstein, ganz viele.

Fussball und Lieder. Der Fussball lebt auch von und mit Liedern, es gibt vieles, dass die beiden Künste verbindet. Ich war oft im Bernabeu, sah Spiele, die ich nie vergessen werde. Und ich weiss, wie ich einmal vor vielen Jahren, Mitternacht war längst vorbei, ich hatte noch schreiben müssen und die 100'000 waren längst wieder gegangen, die Tribüne verlassen wollte, hinaus in die Nacht.

«Senor!» schrie einer aus dem Dunklen, ziemlich laut, und er war auch böse.
Ich lief durch die vielen und langen Gänge im Bernabeu, die Lichter im Stadion leuchteten nur noch fade, Papierfetzen, Programmhefte, Becher, sonstige Abfälle lagen am Boden, es roch nach vielem und nicht unbedingt vorteilhaft. Ich stieg enge Treppen rauf und runter, stand vor vielen geschlossenen Türen. Ein Labyrinth. Ohne Ausweg, schien es. Ich dachte einen Moment, warum nicht über das hohe Gitter klettern, auf den Rasen, vielleicht finde ich irgendwo noch einen Ball, ich würde aufs Tor zulaufen, mir vorstellen, wie 100'000 schreien, «Real, mi amor», das Plakat vor Augen, dann “Goooool, Goooool!!!”

Ich stand in einer weiteren dunklen Ecke des Stadions, seit einer halben Stunde suchte ich einen Ausgang. Plötzlich rief einer aus dem Dunklen: «Senõr!», er schrie, ziemlich laut und er war auch böse, schien es, fragte, was ich da mache. Er musste es ahnen, er sah, wie verzweifelt und schwitzend ich da stand, mit meiner Mappe und dem Schreibgerät drin, es war immer noch eine schwüle Sommernacht. Er hatte einen riesigen Schlüsselbund in der Hand, er öffnete mir eine Tür. Ich war befreit.


Aber es gab auch die Nacht, in der das Bernabeu zu einem Konzertstadion wurde, damals im heissen Sommer 2012. Der Boss spielte, Bruce Springsteen, es war damals sein bisher längstes Konzert, und seine Konzerte dauern immer sehr lange, nach 4 Stunden und 20 Minuten endete es, morgens um zwei - es war einmalig, wir gingen hinaus in die Stadt, einfach glücklich.

«Als das Bernabeu zu einem Konzertstadion wurde: Der Boss spielte - bis morgens um zwei.»
Und die Erinnerungen an die Mühle in Hunziken. Eine besonders, es war ein Abend, der dem verstorbenen Polo Hofer gewidmet war, mit Büne, Kuno, Sina, sie sangen für ihn, sprachen über ihn, dachten an ihn, mit ihren und seinen Liedern, es war bewegend, in der Mühli war auch Polo oft aufgetreten.

Jetzt in diesen Zeiten gibt es beides nicht. Weder Fussball, noch Konzerte. Kein Ball, kein Mikrofon.

Oder doch. Christian Häni, der Frontman der Berner Mundartrockband Halunke, erzählt. Wie sie kürzlich mit der Band in die leere Mühle gingen, nur die stummen Figuren waren da. Wie sie ein kurzes Set mit passenden Songs zusammenstellten, wie sie mit dem Handy und Selfiesticks hobbymässig filmten, Applaus einspielten und sich vom Bühnenlicht blenden liessen. Sie hatten das Gefühl, ein richtiges Konzert zu geben - haben uns da nicht Hunderte zugejubelt? -, die Stimmung sei wohlig warm gewesen, sie hätten sich vorgestellt, ihren imaginären Freunden in die Augen zu sehen. Und zum Abschied habe man sich mit zwei Metern Abstand in den Armen gelegen. Das Geisterkonzert ist auf ihrer Homepage zu finden.

Zurück ins Bernabeu. Es war 1987, ein Geisterspiel, als Strafe, weil es Monate zuvor zu wüsten Ausschreitungen gekommen war. Real Madrid gegen Napoli, es lief klassische Musik, als die beiden Mannschaften ins Stadion liefen, Napoli mit Captain Maradona, die Spieler stellten sich auf und winkten, aber niemand schrie und winkte ihnen zu.



Das Geisterspiel Real gegen Napoli: Madrid, September 1987.

Fast niemand. In der Ehrenloge sass der Bürgermeister von Madrid, Juan Barranco, er war einer von jenen 70, die Real einladen durfte, auch Napoli durfte das, Maradonas Mutter und seine damalige Verlobte waren unter ihnen. 

499 wurden als Zuschauerzahl angegeben, dazu zählten alle, Spieler, Betreuer, Offizielle, Ballbuben, Journalisten. Aber eigentlich waren es 500. Aus einer dunklen Ecke des Stadions kamen dumpfe Klänge und komische Schreie, auch “Hala Madrid!”, die Hymne Reals, die sonst 100'000 singen. Jetzt offenbar nur einer. Mit einem Megafon, das an einen Verstärker angeschlossen war, hinter einer Säule stand er, versteckt.


Der Fan mit dem Megafon hinter der Säule: Madrid, September 1987.

Tiri heisse er, er sei einer der Geladenen von Real, sagte er zuerst und schmunzelte, später, als wir alleine waren, verriet er seinen Namen, Edilberto Martinez, mindestens 60 Jahre alt musste er sein, etwas rundlich und schnauzbärtig, von Beruf Maler. Er sei immer dabei, wenn Real spiele, er betonte “immer” – auch diesmal, trotz vielen hundert Polizisten und Sicherheitsleuten, die das Stadion streng bewachten. Er komme einfach rein, alle würden ihn kennen.

Das Spiel endete knapp vor Mitternacht, zur Geisterstunde, Real siegte 2:0. Mit einem Geist, der, wie im Märchen, beim Schlusspfiff sofort in der dunklen Nacht verschwand.



Büne Hubers Geschichten, File 475: Bern, April 2020.

Geisterkonzerte, jetzt bald wieder Geisterspiele. Christian Häni sagt, er werde in solchen Zeiten hyperaktiv mit uferlosen Ideen. Er habe sich zum Ziel gesetzt, gewisse Dinge endlich zu machen - zum Beispiel Zöpfe backen. Er bekomme inzwischen täglich Bestellungen, der Rocker ist jetzt auch ein Bäcker. Büne Huber, sein Musikerfreund, schrieb kürzlich in File 475 seiner unendlichen Patent-Ochsner-Geschichten. «irgendetwas muss man in diesen tagen ja anfangen, irgendetwas, egal was. das muss sich auch der häni – dieser alte halunke –, gedacht haben, als er kürzlich fürchterlich unbeholfen einen butterzopf zu backen versuchte und dabei die ganze welt daran teilhaben liess. ich habe mich natürlich gefragt: weshalb tut der sowas? er könnte doch auch ein lammgigot grillen. das kann er nämlich gut, das weiss ich.»

Büne hat von Häni auch einen Zopf bekommen.

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